Die Revolution der Ameisen
müsse ihn freilassen, damit er zu seinem kürzlich sozialisierten Volk zurückkehren könne. Nr. 15 versteht nicht, warum man ihn verschonen sollte. Schließlich ist er sehr wohlschmeckend.
»Vielleicht sollten wir sogar diese berühmte ›Begründerin‹
suchen und töten«, fügt sie hinzu.
Die anderen stimmen ihr zu. Wenn die Teichläufer sich jetzt zu Gruppen zusammenschließen und kriegerisch gebärden, werden sie in einigen Jahren Städte bauen und die Flüsse beherrschen. Am vernünftigsten wäre es, ihnen sofort Einhalt zu gebieten.
Das weiß auch Nr. 103, aber sie sagt sich, daß man jeder Gattung eine Chance geben müsse. Man braucht Konkurrenten nicht zu vernichten, um seinen Vorsprung zu wahren, man muß nur schneller sein.
Die Prinzessin rechtfertigt ihr Mitgefühl mit dem Hinweis auf ihre geschärften Sinne, aber im Grunde weiß sie, daß es nur ein weiterer Beweis für ihre Dekadenz ist, die ihren Ursprung zweifellos im langen Umgang mit den Fingern hat.
Sie neigt zum Egoismus, und diese Tendenz hat sich durch ihre Verwandlung in ein geschlechtsfähiges Weibchen weiter verstärkt. Normalerweise ist eine Ameise ständig mit dem Kollektivgeist verbunden und isoliert sich nur in seltenen Fällen davon, um persönliche Probleme zu lösen. Doch Nr. 10\1 hat sich fast komplett vom Kollektivgeist getrennt und gibt sich gar keine Mühe mehr, als Gruppenwesen zu agieren. Wenn das so weitergeht, wird sie bald nur noch an sich denken und genauso egozentrisch wie die Finger sein.
Auch Nr. 5 spürt, daß die Prinzessin sogar bei der Absoluten Kommunikation ganze Bereiche ihres Gehirns verschließt, daß sie nicht mehr ans Kollektiv denkt.
Doch dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Reflexionen oder Vorwürfe, denn die Ameisen bemerken plötzlich, daß die Blütenblätter der Seerose sich wie Segel blähen. Entweder ist ein starker Wind aufgekommen, oder aber … die Geschwindigkeit hat sich erhöht.
Alle nach oben.
Einige Ameisen klettern bis zur Spitze des höchsten Blütenblatts empor. Hier ist die Geschwindigkeit noch viel spürbarer. Ihre Fühler fliegen wie Grashalme nach hinten.
In der Ferne zeichnet sich ein schaumgekröntes Hindernis ab, und bei dem jetzigen Tempo werden sie ihm kaum ausweichen können.
Hoffentlich ist es kein Wasserfall! denkt Nr. 103.
87. VORBEREITUNGEN
Julie und ihre Freunde bereiteten sich sorgfältig auf ihr zweites Konzert vor. Jeden Nachmittag wurde nach dem Unterricht im Musikraum geprobt.
»Wir haben nicht genug eigene Lieder, und es macht einen schlechten Eindruck, wenn wir jedes Stück zweimal singen müssen, um ein Konzert von normaler Länge zu bestreiten.«
Julie legte die Enzyklopädie auf den Tisch, und alle beugten sich darüber. Mögliche Themen wurden sofort notiert:
›Goldene Zahl‹, ›Das Ei‹, ›Zensur‹, ›Noosphäre‹, ›Die Kunst der Fuge‹, ›Reise zum Mond‹ … Sie machten sich daran, die Texte umzuschreiben, damit sie leichter vertont werden konnten.
»Wir sollten den Namen der Gruppe ändern«, sagte Julie plötzlich.
Alle hoben die Köpfe. »›Schneewittchen und die Sieben Zwerge‹, das hört sich doch kindisch an, findet ihr nicht auch?« fuhr sie fort.
»Außerdem stört mich das ›und‹, weil es mich von euch trennt.
Wenn schon, würde mir der Name ›Die Acht Zwerge‹ besser gefallen.«
Alle begriffen, worauf sie hinaus wollte.
»Den größten Erfolg hatten wir mit dem Lied ›Die Revolution der Ameisen‹. David hat schon vorgeschlagen, unser nächstes Konzert so zu nennen. Warum sollten wir nicht auch unsere Gruppe entsprechend umtaufen?«
»Doch nicht in ›Die Ameisen‹?« rief Zoé naserümpfend.
»Warum nicht?« meinte Léopold. »Das würde sich ganz gut anhören. Es hat doch auch schon die Beatles, d. h. die ›Käfer‹
gegeben, und die vier Typen hatten unglaublichen Erfolg.«
Ji-woong dachte laut nach. »Die Ameisen … Die Revolution der Ameisen … Da gäbe es einen Zusammenhang, das stimmt schon. Aber warum ausgerechnet diese Insekten?«
»Was hast du denn gegen Ameisen?«
»Man zertrampelt sie mit den Füßen oder zerquetscht sie mit den Fingern. Außerdem haben sie nichts Amüsantes an sich.«
»Nehmen wir lieber irgendwelche schönen Insekten« schlug Narcisse vor. »Nennen wir uns ›Die Schmetterlinge‹ oder ›Die Bienen‹.«
»Warum nicht gleich ›Die Gottesanbeter‹«, grinste Paul.
»Gottesanbeterinnen haben ulkige Köpfe, die sich auf Plattenhüllen gut machen
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