Die Ringe der Macht
Burin kaum fassen konnte.
Sie wurden durch das Tor in einen Gang geführt, der den Gefährten den Atem stocken ließ. Die Decke war kaum zu erkennen, so hoch waren die Wände. Sie waren übersät mit Schmuck. Es waren nicht die üblichen Verzierungen durch geometrische Muster, die Felder waren vielmehr eingelegt mit feinsten Mosaiken aus farbigem Gestein, deren Aderungen und Strukturen ihnen ein eigenes Leben zu verleihen schienen. Sie zeigten das altbekannte Motiv der Schöpfung der Zwerge, in allen Variationen, doch nein, etwas daran war anders. Es war, als sei an dieser Wand die Schöpfung eines jeden Zwergen durch das göttliche Paar für alle Zeiten festgehalten.
»Sehr beeindruckend«, quäkte Gwrgi.
Es ging den Gang entlang, und Burin wurde das Gefühl nicht los, als wäre der Weg länger, als es den Anschein hatte. Alles wirkte normal, doch war ihm so, als würde er mit jedem Schritt eine weit größere Distanz zurücklegen. Er konnte es nicht sehen, nur spüren. Ein Blick auf die Gefährten an seiner Seite zeigte ihm, dass auch Gwrgi und Marina von ähnlichen Empfindungen geplagt wurden.
Moli und Nóri wirkten von all dem völlig unbeeindruckt, und sie plapperten miteinander über belanglose Dinge, die den Gefährten freilich rätselhaft blieben. Einmal war die Rede von einem ›Refrigerator‹, aber Burin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu es gut wäre, einen Schrank zu haben, in dem er Eis aufbewahren konnte. ›Television‹ hingegen fand er zunächst ganz nützlich; aber als er hörte, dass es mehr oder weniger vom Zufall und nicht vom Willen des Betrachters abhing, was man fernsah, erschien es ihm ein ziemlich absurder Zeitvertreib. Und ein ›Typograph‹, eine Schreibmaschine, lag nun doch jenseits des Glaubhaften; denn zum Schreiben bedurfte es eines Gelehrten oder Dichters oder zumindest eines klugen Kopfes, aber wie sollte eine Maschine wissen, was sie zu schreiben hatte?
Die Versuche der beiden Zwerge, ihre Gäste in das Gespräch einzubeziehen, waren daher notgedrungen zum Scheitern verurteilt. Außerdem waren die Wesen der Mittelreiche offensichtlich von einem Misstrauen gegen die Wunder der Untererde erfüllt, wenngleich der Zwerg dies nicht so drastisch zum Ausdruck brachte, wie es Marina angesichts des Mangels an Bäumen und Pflanzen getan hatte, oder so ironisch wie der sonderbare kleine Kerl mit den Kiemen.
Das Ende des Ganges war plötzlich zu erkennen, als wäre es aus dem Nichts aufgetaucht, und es kam rasend schnell näher, was Burins anfängliche Vermutungen bestätigte.
Vor ihnen glitt eine weitere doppelflügelige Tür auf, die diesmal aus Stein gemeißelt war. Dann wurden sie von Moli und Nóri in einen Raum geführt, den sie hier so nicht erwartet hatten. Burin kam sich vor, als betrete er eine gute Stube. Alles war gemütlich eingerichtet. Tische, Stühle, Sofa, Bilder an der Wand; nichts fehlte, um ein wohliges Gefühl auszulösen.
Die Gefährten bemerkten kaum, wie sich ihre beiden Führer zurückzogen.
»Fühlt ihr euch wohl?«, fragte eine warme weibliche Stimme, und unwillkürlich nickten die Gefährten, ohne ein Wort hervorzubringen. »So ist es gut«, sagte dieselbe Stimme aus einem Nachbarzimmer.
Dann trat eine Dame durch die Tür – eine Zwergenfrau, wie Burin zu seiner größten Verwunderung erkannte, hatte er doch immer geglaubt, es gebe in der Untererde gar keine Frauen …
»Ich vergesse manchmal, was ihr euch unter Gemütlichkeit vorstellt«, sagte sie, als sei alles in der kleinen Stube für sie fremd.
Burin wurde ganz seltsam zumute. Er spürte eine Gegenwart, die ihn mit Wärme und Freude erfüllte, aber zugleich war ihm bewusst, dass Weisheit in ihr lag und Zaubermacht. Die Worte des alten Gebetes der Zwerge kamen ihm in den Sinn, und plötzlich wusste er, wen er da vor sich hatte.
»Preis sei Euch, Herrin!«, sagte er und fiel auf die Knie.
»Sachte, sachte«, sagte die Meisterin. »Genau das wollte ich eigentlich vermeiden, junger Burin. Bitte nicht hinknien, ihr anderen auch nicht. Setzt euch doch. Nehmt ihr Zucker zum Tee?«
Vorsichtig, nicht recht wissend, wie ihm geschah, erhob sich Burin wieder auf die Füße.
Vor ihm stand eine reizende ältere Dame. Sie hatte für eine Zwergin ein feingeschnittenes Gesicht, das trotz der weißen Haare seltsam jugendlich wirkte, und auch ihre Bewegungen waren nicht die einer Greisin. Aber das war sie ja auch nicht. Sie war ein Teil jenes göttlichen Paares, das die Zwerge der Untererde
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