Die Risikoluege
Todesfolge zu rechnen sei. Die Kernenergielobbyisten nahmen die Zahlen gerne auf und verglichen sie beispielsweise mit den 4000 jährlichen deutschen Straßenverkehrsopfern.
Die Vergleiche wurden dann immer grotesker. Franz Josef Strauß sagte den Gegnern der damals geplanten Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf, dass eine solche Anlage und der damit verbundene Einstieg in die Plutoniumwirtschaft sicherer sei, als eine Fahrradspeichenfabrik.
Und Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter Kanzler Kohl, sagte, um die nach ihrer Ansicht beherrschbare Nukleartechnik zu verteidigen: »Wenn Sie einen Kuchen backen, geht auch nicht alles nach Rezept, da fällt schon mal ein Mehlstäubchen ab.« Gefragt, welcher der Vergleiche mich mehr überzeugt, der mit den Fahrradspeichen oder der mit dem Mehlstäubchen, wüsste ich wirklich nicht, für welchen ich mich entscheiden sollte.
Katastrophen sind selten, weswegen sie der Bevölkerung von den Betreibern großtechnischer Anlagen stets als vernachlässigbar kleine Wahrscheinlichkeiten angegeben werden. In der 1979 erschienenen ersten deutschen Risikostudie über die Sicherheit von Atomkraftwerken in der Bundesrepublik war beispielsweise errechnet worden, »dass eine Kernschmelze in einem deutschen Reaktor statistisch alle 10000 Reaktorbetriebsjahre zu erwarten sei«.
Eine solche Aussage löst natürlich heute angesichts von
zwei nuklearen Katastrophen innerhalb von 25 Jahren Kopfschütteln aus. Die zitierte Rechnung muss dennoch nicht falsch sein, man muss sie nur anders lesen: »Eine Kernschmelze in einem deutschen Reaktor ist statistisch gesehen nur einmal in 10 000 Reaktorbetriebsjahren zu erwarten.« Und die Aussage wird vollends verständlich, wenn man hinzufügt: »Und dieses eine Mal kann morgen sein.«
Charles Perrow sagte zum Thema Wahrscheinlichkeiten dies: »Das mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass Eliten die Existenz oder die Errichtung von Systemen mit Katastrophenpotenzial hinnehmen. Es können Jahrzehnte vergehen, ohne dass eine Katastrophe eintritt, wie sich bei den Reaktoranlagen, bei großchemischen Anlagen und bei den Raumflugunternehmen gezeigt hat. Da es jedoch zu Katastrophen kommt und da viele katastrophenträchtige Systeme für unser Leben nicht unentbehrlich sind, können wir daraus wenig Trost beziehen.«
Was nichts anderes heißt, als dass auch das Unwahrscheinlichste irgendwann einmal eintritt. Oder, wie Murphys Gesetz lautet: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen. »Zu beweisen ist es nicht«, wie der Mathematiker Gerd Antes in einem FAZ-Artikel zu Fukushima erläutert, »da alles nicht empirisch überprüft werden kann. Widerlegen lässt es sich aber auch nicht, da ja das, was noch nicht schiefgegangen ist, morgen schiefgehen kann – und dieser Fall leider auch sehr oft eintritt.«
Hierzu passt Perrows Voraussage zu einem Reaktorunfall: »Nach Three Mile Island (Harrisburg, USA, 1979) ist es deshalb noch nicht zu weiteren vergleichbaren schweren Atomunfällen gekommen, weil die Kernkraftwerke noch zuwenig Zeit hatten, das mit ihnen verbundene Katastrophenpotenzial
zu entfalten. Die für derartige Unfälle erforderlichen Bedingungen liegen jedoch schon heute vor und wir können von großem Glück sagen, wenn es innerhalb des kommenden Jahrzehnts nicht mindestens einen Unfall gibt, bei dem der Reaktorsicherheitsbehälter beschädigt wird.«
Perrow schrieb dies im Orwell’schen Jahr 1984. Zwei Jahre später schon passierte Tschernobyl. Ja, selten sind sie, die Katastrophen, aber zuverlässig sind sie auch.
5
Ein Unglück kommt selten allein
Der Chemiebrand in Schweizerhalle, Schweiz
1.11.1986
Zuerst die Challenger-Katastrophe, dann der Super-Gau in Tschernobyl, und schließlich auch noch die Chemiekatastrophe in Schweizerhalle. Es war ein Katastrophenjahr, dieses Jahr 1986.
Schweizerhalle ist ein großes Industriegebiet bei Basel, direkt am Rhein gelegen, und das Produktionsgebiet namhafter Chemiekonzerne wie Novartis Schweizerhalle, Roche, Clariant sowie der Schweizer Rheinsaline. Zum Zeitpunkt des Unglücks gab es dort die Chemiefirmen Ciba-Geigy und Sandoz, die heute in Novartis aufgegangen sind.
Am 1. November 1986, einem Samstag, kam es kurz nach Mitternacht in der 60 Meter breiten und 100 Meter langen Lagerhalle der Sandoz AG in Schweizerhalle zu einem Großbrand. 1350 Tonnen Chemikalien lagerten dort. In einem Inferno von pausenlosen Explosionen
Weitere Kostenlose Bücher