Die Risikoluege
Leonhardt schließt also in seiner Definition von Journalismus das Kommentieren bewusst mit ein, spricht nicht etwa nur vom Informieren.
Ich stimme dem uneingeschränkt zu. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung von seinen Pflichten ist der
Journalist nicht einfach der Vermittler von Information, sonst wäre er bloßer Nachrichtenagent. Vielmehr muss ihm die natürliche und legitime Absicht jedes Informanten zugestanden werden, eine bestimmte Information zur Nachricht zu machen, mit der Nachricht Meinung zu bilden und Wirkungen in der Öffentlichkeit auszulösen. Meinungsbildung ist ein völlig legitimes journalistisches Anliegen.
Auch unterliegt der Journalist ebenso wenig einer einklagbaren Wahrheitspflicht wie andere Menschen auch, jedenfalls keiner anderen, der nicht auch Wissenschaftler, Unternehmer oder Politiker unterstehen sollten. Wahrhaftigkeit allerdings muss hartnäckig von ihm gefordert werden, vor allem dahingehend, dass sein gesellschaftspolitischer Standort für jeden klar erkennbar ist. Jemand, der Meinungsbildung betreibt, soll auch zeigen, wo er steht und was er will.
Auch wenn die Medien insgesamt gesehen in der Gesellschaft viel zu wenig positive Akzente setzen und zunehmend auch zu fragwürdigen, um nicht zu sagen kriminellen Methoden greifen, so tun sie – indem sie in das Dickicht der Lügen eindringen – doch immer noch mehr als die meisten anderen.
Der investigative Journalismus – übrigens nicht zu verwechseln mit dem Enthüllungsjournalismus der Boulevardmedien – ist bei uns eine feste Größe geworden, ganz im Gegensatz zu Japan, wo man ihn kaum kennt, und wo die Bevölkerung nach Fukushima hilflos den Informationen von Staat und Betreiber ausgesetzt war. Von ihm geht heute eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne in Demokratien aus, vielleicht sogar die letzte überhaupt. Wir sollten ihn als einen wichtigen Schutzmechanismus gegen Lug und Betrug
betrachten. Dass dies auch von denen so gesehen wird, die in den Industrien tätig sind, Missstände beobachten aber nicht selbst korrigieren können, geht schon aus den vielen Hinweisen hervor, die aus dem Inneren der Unternehmen an die Medien gelangen.
Bewahren wir uns den investigativen Journalismus, eine technikorientierte Gesellschaft kommt ohne ihn nicht mehr aus.
Schockieren
Betrachtet man die Berichterstattung der Massenmedien, so ist festzustellen, dass diese weitgehend »opferorientiert« ist: Die Opfer sind es, die interessieren und Schlagzeilen liefern, nicht die Überlebenden.
»Genau genommen berichten die Medien nicht über Risiken. Sie stellen tatsächliche und mögliche Schadensfälle dar«, sagt der Publizistikprofessor Hans Mathias Kepplinger von der Universität Mainz. »Für eine Beurteilung der von ihnen ausgehenden Risiken fehlen dagegen in fast allen Beiträgen jene Informationen, die man zu einer Risikoeinschätzung braucht – darunter die Zahlen der theoretisch und der tatsächlich betroffenen Personen.«
Anders ausgedrückt heißt das, dass man über das Ausmaß eines Risikos oder einer Katastrophe erst dann eine Vorstellung erhält, wenn man der Zahl der Opfer die Zahl derer gegenüber stellt, die nicht zu Opfern wurden. Für relative Zahlenangaben interessieren sich die Statistiker, für die absoluten die Medien. Da die meisten Menschen aber von Statistik nichts verstehen, kann man sie mit Zahlen leicht dorthin führen, wohin man sie haben will. Mit Statistik
kann man nicht nur verwirren, man kann auch mit ihr bewusst irreführen.
Neuigkeit und Sensation sind die Kriterien, die über die Nachrichtenfähigkeit entscheiden, und Schnelligkeit ist bei der Vermittlung der Sensation alles. Deswegen fehlt zur Überprüfung der Richtigkeit einer Information und zur Abklärung ihrer Bedeutung meist die notwendige Zeit. Der Journalist, der von Sensation zu Sensation jagt, kann sich keine Zeit nehmen, Hintergründe zu erforschen. Unvollständige oder gar falsche Darstellung eines Ereignisses wird zum journalistischen Risiko. Und damit zum Risiko für uns Rezipienten: Was ist wahr und was ist falsch, was wurde verharmlost, was übertrieben dargestellt?
Günter Grass äußert noch eine andere, viel schwerwiegendere Kritik. Auf der Jahrestagung 2011 der Journalistenvereinigung Netzwerk sagte er: »Der Journalismus steht im Bündnis mit den herrschenden Verhältnissen. Er tritt der Vormacht der sich zu einer Parallelgesellschaft formierenden Bankenvorstände und
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