Die Risikoluege
Feuerlöschen gefunden zu haben. Und der britische Regierungschef hatte das Motiv, den Unfall (nach heutiger Einschätzung Stufe 5 auf der INES-Skala) herunterzuspielen, um nicht militärische Geheimnisse zu verletzen und dadurch das Vertrauen des politischen Partners USA zu verlieren. Vor allem aber sollte nicht die öffentliche Akzeptanz für eine Zukunftstechnologie, die damals noch am Anfang ihrer Entwicklung stand, gefährdet werden. Dies alles waren Gründe dafür, Menschen nicht vorsorglich zu evakuieren und sie damit bewusst einem gesundheits- und lebensbedrohenden Risiko auszusetzen.
Tatsächlich sind aber durch dieses Taktieren nur Gerüchte und Spekulationen entstanden, die immer wieder Nahrung fanden, die Bürger verunsicherten und sich später
nicht nur auf die Akzeptanz der Kernenergie, sondern auch auf andere Zukunftstechnologien ausgesprochen negativ ausgewirkt haben. Insgesamt gesehen kann der Schaden, der durch gefilterte, einseitige und unvollständige Informationen der Behörden in der Bevölkerung entsteht, enorm sein und ist es meist auch.
In einer Untersuchung über derartige technische Zwischenfälle, die in den USA zu großer öffentlicher Besorgnis und Kontroverse geführt hatten, wurde festgestellt, dass bei vielen Vorkommnissen das Risiko nicht so groß war, wie die Kritiker behauptet und die Medien es dargestellt hatten, dass es aber in jedem zweiten Fall wahrscheinlich größer war, als es zunächst zugegeben wurde.
Und als habe es Windscale nicht gegeben, passiert nach Fukushima in Großbritannien nun das Gleiche abermals. Die britische Tageszeitung Guardian veröffentlichte, wie Andreas Oldag in der Süddeutsche Zeitung berichtet, interne E-Mails aus den Londoner Wirtschafts- und Energieministerien, deren Adressat offenbar der Verband der britischen Kernkraftwerksbetreiber war. Danach haben britische Regierungsstellen systematisch versucht, das Ausmaß der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima-1 herunterzuspielen, offenbar in Sorge über einen möglichen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Die konservativ-liberale Regierung will am Ausbau der Nuklearenergie festhalten, die nach ihrer Meinung eine Schlüsselrolle bei der Reduzierung klimaschädigender Treibhausgase spielt. Aus einer dieser Mails geht auch hervor, dass der Kernkraftwerksbauer Westinghouse zu erkennen gab, dass seine neu konzipierten Reaktoren nicht gegen ein so starkes Erdbeben wie in Japan geschützt seien.
Und in Deutschland hat sich die Atomwirtschaft schon vor der Bundestagswahl 2009 wohl auch im Interesse der sie unterstützenden politischen Parteien massiv bemüht, eine Kernenergie-freundliche Stimmung im Land zu schaffen: mit Medienbeiträgen, Studien und Erklärungen prominenter Persönlichkeiten.
Nicht lange nach der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion war ich vom Deutschen Atomforum eingeladen worden, auf seiner Winter-Tagung 1988 zum Thema »Strahlenangst nach Tschernobyl: Was ist zu tun?« zu sprechen. Die Veranstaltung fand in äußerst angespannter Atmosphäre in einem von Atomkraftgegnern belagerten und von Polizei hermetisch abgeschirmten Hotel in Bonn statt. In meinem Referat kam ich auch auf Windscale zu sprechen. Und ich sagte den Satz: »Die Geschichte zeigt immer wieder, dass keinem gesellschaftlichen System Menschenverachtung fremd und dass der Staat zuweilen bereit ist, Leben ihm anvertrauter Menschen aufs Spiel zu setzen, wenn es die politische Situation erforderlich macht.« Damit war ich als Redner bei den Atomlobbyisten erledigt und vom Fernsehen als kritischer Wissenschaftler entdeckt.
Windscale rechtfertigt meine Skepsis, die mir von dorther gegenüber manchen staatlichen Entscheidungen und offiziellen Verlautbarungen – auch gegenüber solchen der Industrien – geblieben ist. Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein des Staates und in die Handlungsmoral der Industrien ist wichtig, aber blindes Vertrauen ist nicht angezeigt. Bewahren wir uns also alle ein gesundes Misstrauen, und vor allem, ich kann es nicht oft genug sagen: Glauben wir nicht alles!
Die Zwischenfälle bei der Kernenergie und der Chemie waren es im Besonderen, die den Fortschrittsglauben vieler Menschen in Pessimismus umschlagen ließen. Sie haben uns zudem einen eklatanten Mangel an Fähigkeit deutlich gemacht, die Folgen in technischer wie in kommunikativer Hinsicht bewältigen zu können. Ingenieure und Politiker waren in ihren Aktionen mehr ratlos als souverän, und jedermann ist mittlerweile
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