Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
verstanden hatte. Chris übersetzte den Witz ins Englische, und als Tom zu lachen anfing, prusteten auch wir anderen erneut los, bis uns die Tränen in den Augen standen. Dann, als wir nach dem unerwarteten Heiterkeitsausbruch alle erschöpft verstummten, erfüllte eine vollkommene Stille den Raum, vor deren Hintergrund sich das leise Rauschen des Nieselregens abhob.
Mit dem Auge kaum wahrnehmbare, feine Wassertropfen wurden vom Wind zerstäubt und schlugen sich als trüber Film auf den Fenstern nieder. Nach einigen Minuten hatten sich zu Füßen der Burg wie aus dem Nichts erste kleine Pfützen gebildet, deren Oberflächen sich durch den Niesel fein kräuselten und zu zittern schienen.
Tolik und ich standen nebeneinander am Fenster, pressten die Nasen an die kalte Scheibe und schauten eine Weile schweigend dem Regen zu. Dann schob Tolik plötzlich den Riegel zurück und zog am Griff. Das Fenster klemmte und ließ sich nur mit einem heftigen Ruck öffnen, als hätte sich der Holzrahmen in der Kälte bereits verzogen.
Durch das geöffnete Fenster ergoss sich ein Schwall eisiger, von herbstlicher Klammheit getränkter Luft in den Raum. Der Himmel war bis zum Horizont mit einem dichten, grauen Wolkenschleier verhangen. Tom begann
sogleich zu schlottern, obwohl er eine dicke Wollweste über seinem Hemd trug.
»Schweinekalt!«, kommentierte Chris mit finsterer Miene.
Keiner sagte mehr ein Wort, bis Tolik das Fenster so energisch wieder zustieß, dass die Scheiben bedrohlich schepperten.
»Vielleicht ist das ja der hiesige Winter«, mutmaßte Ilja und sah uns heftig zwinkernd einen nach dem anderen an. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er ohne Brille Meloman nicht von Tolik und mich nicht von Timur unterscheiden konnte.
»Ja, es ist Winter«, pflichtete Timur bei. »Fünfzig Jahre lang war Sommer, und jetzt folgen eben fünfzig Jahre Winter.«
»Zwischen Sommer und Winter müsste aber normalerweise noch der Herbst kommen«, entgegnete Chris leise. »Ein so abrupter Wintereinbruch ist doch nicht normal.«
»Wir werden bestraft.«
Fast hatten wir schon vergessen, wie Maljoks Stimme klingt. Völlig unerwartet hatte er sich in die Diskussion eingeschaltet. Schon seit längerer Zeit war er bei Zusammenkünften und Unterhaltungen nur mehr als schweigender Zuhörer beteiligt gewesen. Meist saß er in irgendeiner Ecke und schrak zusammen, wenn man ihn ansprach.
»Was willst du damit sagen?«, fuhr Chris ihn an. »Weißt du etwas?«
»Ja«, erwiderte Maljok und fuhr leise, aber bestimmt fort: »Ich habe sie einmal gefragt, was sie mit denen machen, die sich nicht unterordnen wollen. Und sie haben
geantwortet, dass sie diejenigen mit Kälte bestrafen würden.«
»Das hättest du wirklich mal früher sagen können«, zürnte Chris.
Maljok wurde noch ein wenig kleiner, als er ohnehin schon war. »Es ist mir eben erst wieder eingefallen. Außerdem haben sie es ja nicht im Zusammenhang mit den Brücken gesagt. Ich hätte gedacht, dass man dafür schon etwas Schlimmeres anstellen müsste.«
»Könntest du nicht mal nachfragen, Maljok?«, sagte Chris ätzend. Unser sonst so beherrschter Kommandeur blickte den Jüngeren mit einem bösen Grinsen an. »Du könntest doch in den Keller gehen und ein bisschen mit ihnen plaudern.«
Maljok wurde auf einen Schlag kreidebleich. »Alles, nur das nicht«, stammelte er panisch. »Die bringen mich um. Schließlich habe ich sie verraten, und das wissen sie auch. Sie können Stromstöße durch die Tafel jagen, die man berühren muss, um mit ihnen zu sprechen.«
Chris hatte sich bereits wieder im Griff und sah Maljok nachdenklich an. »Wie du meinst«, sagte er schließlich. »Trotzdem habe ich den geistigen Nährwert dieser Bestrafung noch nicht ganz verstanden. Wenn sie uns mit der Kälte umbringen wollten, müssten sie die ganzen Inseln in einen Gefrierschrank verwandeln. Dann würden auch diejenigen draufgehen, die ihnen gehorchen. Warum so kompliziert?«
»Sie könnten doch einfach aufhören, uns Lebensmittel zu schicken«, warf Tolik ein. »Dann würden wir ziemlich schnell verhungern. Das wäre doch viel einfacher und effektiver, als so ein Kältespektakel zu veranstalten.«
»Ganz recht«, pflichtete Chris bei. »Schade, dass du
das nicht genauer herausbekommen hast, Maljok. Aber eins steht fest: Wenn sie beschlossen haben, uns zu bestrafen, dann ist dies kein vorübergehender Kälteeinbruch.«
Das sind ja schöne Aussichten, dachte ich bei mir. Besorgt wandte ich mich
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