Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
Wunder, dass er keine russische Redewendung für diese Situation parat hatte.
»... wie ein Schneider«, ergänzte ich für ihn.
Durch den immer tiefer werdenden Schnee stapfend, machten wir uns auf den Rückweg zur Burg.
»Was soll der faule Zauber?«, fragte ich. »Was hat es für einen Sinn, ein ganzes Meer zu entsalzen?«
»Hast du das noch nicht kapiert?«
»Nein.«
»Ganz einfach: Wenn das Meer vollständig zugefroren ist, kann man auch ohne die Brücken von Insel zu Insel zu gelangen. Unsere Nachbarn wissen ganz genau, wer an der Kältewelle schuld ist. Sie werden uns alle abschlachten.« Chris öffnete das Burgtor. »Und dann wird es ganz schnell wieder wärmer.«
Vom Ufer her fror das Meer nach und nach zu. Die Eiskruste bildete einen dicken, sich ständig verbreiternden weißen Ring um die Insel. Von oben sah es aus wie ein Gürtel aus Gischt, der in der Bewegung erstarrt war.
Gleichzeitig entstanden im offenen Meer zwischen den Inseln bläulich schimmernde Eisschollen. Zwar waren es noch nicht besonders viele, aber man konnte dabei zusehen, wie es allmählich immer mehr wurden.
»Wir haben noch ein oder zwei Tage zu leben«, rief Meloman laut.
Vermutlich hatte er es nur leise vor sich hin flüstern wollen; es war eigentlich nicht seine Art, mit melodramatischen Phrasen um sich zu werfen. Sein Disc-Man lief jedoch mit voller Lautstärke, weshalb er nicht einschätzen konnte, wie laut er sprach.
Dafür konnte ich ein paar Fetzen des Liedes verstehen, das gerade lief:
Eiskalter Wind durchfegt die Stadt,
bittrer Frost klirrt unversöhnlich,
ein alter Schriftzug leuchtet matt:
Partei und Volk sind unzertrennlich.
Es war wieder ein Stück von Melomans Lieblingsgruppe Zeitspirale. Und wenn ich mich recht entsann, hieß das Album Liebe im Land des Frosts .
Niemand schenkte Melomans düsterer Prognose Beachtung. Im Thronsaal wurden allerlei Pläne zur Verteidigung der Insel diskutiert, und von allen Seiten hagelte es »geniale« Ideen. Timur regte an, das Eis mit dem restlichen Dynamit zu sprengen; Inga hielt es für sinnvoll, Skier und Schlittschuhe anzufertigen, um einen Geschwindigkeitsvorteil zu erlangen; Ilja verstieg sich zu dem abenteuerlichen Einfall, einen Überraschungsangriff auf die Nachbarinseln zu starten; Olja bevorzugte die defensivere Variante, sich übers Eis möglichst schnell und weit aus dem Staub zu machen. Als ich mir vorstellte, wie Timur und Inga auf Schlittschuhen, zwischen Eislöchern hindurchlavierend und mit den Holzschwertern fuchtelnd, übers gefrorene Meer sausen würden, musste ich laut auflachen.
»Was meinst du denn dazu, Dima?«, fragte Tolik.
Betreten zog ich die Schultern hoch. »Mir ist noch nichts eingefallen. Weit weg über das Eis flüchten können wir jedenfalls nicht. Sobald wir ein paar Kilometer von der Insel entfernt wären, würde das Eis garantiert tauen. Nicht wahr, Maljok?«
»Natürlich, es würde sofort wieder schmelzen«, bestätigte Maljok dienstfertig.
»Dieser Plan entfällt also. Das Eis zu sprengen wäre
natürlich nicht schlecht. Problematisch ist nur, dass die Eislöcher innerhalb von ein paar Stunden wieder zufrieren würden. Vielleicht sollten wir lieber Handgranaten bauen.«
»Aus den Dynamitstangen?«, fragte Timur.
»Ja, mit kurzer Zündschnur.«
»Wäre eine Möglichkeit.« Timur drehte sich um. »Wo ist eigentlich Chris? Rita, wo ist er hingegangen?«
»Er war noch gar nicht hier«, erwiderte Rita achselzuckend. »Wahrscheinlich ist er auf dem Wachturm, jedenfalls wüsste ich nicht, wo er sonst sein könnte.«
Auch mir war bisher nicht aufgefallen, dass Chris nicht bei uns war. Das war sehr ungewöhnlich, denn bei strategischen Besprechungen war der Kommandeur normalerweise immer dabei. Ich wusste nicht, was die anderen sich dachten, jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht stimmte.
»Ich hole ihn«, sagte ich und sprang vom Stuhl auf. »Er wird sich noch erkälten dort oben.«
Rita sah mich an, und in ihrem Blick lag Besorgnis. In diesem Augenblick spannte sich ein unsichtbares Band zwischen uns, denn wir hatten beide das Gefühl, dass Chris nicht zufällig mit Abwesenheit glänzte.
»Ja, geh ihn suchen, Dima«, bat sie. »Es ist schon halb acht. Zeit zum Abendessen.«
Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Olja, Tanja und Rita. Die Aussicht auf eine Mahlzeit war eine willkommene Ablenkung und suggerierte wenigstens einen Hauch von Normalität in unserer prekären Lage.
»Ich bin gleich zurück«,
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