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Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov

Titel: Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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wieder zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Da fiel mir auf, dass sich die Pfützen auf einmal nicht mehr kräuselten. An ihrer Oberfläche hatte sich eine dünne, gläserne Haut gebildet.
    »Null Grad«, rief ich unwillkürlich aus. »Jetzt wird’s frostig, Freunde.«
     
    Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten im Bett geblieben. Mir war von vornherein klar, dass es ein böses Erwachen geben würde. Die warme Decke über den Kopf gezogen, klammerte ich mich an meine zerrieselnden Träume und versuchte krampfhaft weiterzuschlafen. In jenem Moment wäre es mir so viel lieber gewesen, in bizarren Traumwelten zu wandeln, als auf dem harten Boden der Wirklichkeit aufzuschlagen. Doch es half alles nichts, schon kroch die Kälte mit langen Krakenarmen gnadenlos unter meine Decke und versetzte meinem hilflosen Körper Millionen feinster Nadelstiche.
    Ein verstohlener Blick zum Fenster bestätigte mir, was ich ohnehin geahnt hatte: Draußen schneite es. Angewidert streckte ich den Arm aus und tastete nach dem Kleiderstapel, der vor meinem Bett auf einem Stuhl lag. Tief in die Decke verkrochen, zog ich mich Schicht für Schicht an. Dann sprang ich mit einem Satz aus dem Bett und schlüpfte hastig in meine warme Jacke. Um mich aufzuwärmen, ruderte ich mit den Armen und versuchte, mir einzureden, dass es in Wirklichkeit gar nicht so furchtbar
kalt, sondern dass ich durch den langen Aufenthalt in der warmen Inselwelt schlichtweg verweichlicht war.
    Der Schnee fiel ebenso monoton und unspektakulär wie der Regen am Vortag. Wie in Zeitlupe sanken dichte Schleier feinster Flocken vom Himmel, als wollte es nie wieder aufhören, zu schneien. Wenn wirklich die Außerirdischen dahintersteckten, dann kannten sie sich in der menschlichen Psyche erstaunlich gut aus. Das allmähliche, aber unaufhaltsame Absinken der Temperatur war wesentlich beklemmender und zermürbender, als ein aus heiterem Himmel einsetzender Schneesturm es je hätte sein können.
    Als ich durchs Fenster auf den Wehrgang hinaussprang, landete ich bis zu den Knöcheln im Schnee. Er rieselte sofort in meine Turnschuhe, wo er schmolz und meine Socken durchnässte. Da ich keinen Ersatz hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als das frostige Fußbad zu ignorieren und zu versuchen, durch Auf- und Abgehen warm zu werden.
    Die Brücken sahen irgendwie verengt und erbärmlich aus. Entweder ich bildete mir das nur ein, oder sie waren in der Kälte tatsächlich geschrumpft. Unten am Strand schlenderte Chris umher. Eine Weile sah ich ihm dabei zu, dann beschloss ich, zu ihm hinunterzugehen.
    Unser Kommandeur benahm sich eigenartig: Mit der Schuhspitze berührte er immer wieder die Wasseroberfläche, um das Bein dann wieder zurückzuziehen und einige Schritte weiter am Strand entlangzugehen, wobei das Profil seiner Turnschuhe hübsche, gerippte Abdrücke im Schnee hinterließ.
    »Chris!«, rief ich ihm zu.
    Er wandte sich um, nickte kurz und kam mir dann
schweigend entgegen. In seinem viel zu langen Wollpullover, mit von nassem Schnee bepackten Schuhen und von der Kälte geröteten Händen sah er überhaupt nicht mehr aus wie ein Erwachsener: ein Teenager genau wie ich, nur ein wenig älter und größer, hager und etwas ungelenk.
    »Was treibst du denn da?«, fragte ich. »Prüfst du, ob das Wasser zum Baden taugt?«
    »Genau. Wenn das Eis ein bisschen dicker wird, gehen wir baden. Bei euch Russen ist das doch so üblich, oder?«
    Ungläubig blickte ich aufs Meer. In Ufernähe hatten sich tatsächlich erste, noch ganz kleine Eisschollen auf dem Wasser gebildet. In Eislöchern zu baden ist natürlich eine feine Sache, ein russischer Volkssport gewissermaßen, wir machen den ganzen Winter nichts anderes, als bei Frost in der Sonne zu liegen. Aber wie zum Teufel war es möglich, dass hier das Meer zufror? Schließlich war das Wasser extrem salzig.
    »Chris, das gibt’s doch nicht. Salzwasser kann nicht so schnell gefrieren!«, rief ich erstaunt.
    »Du hast vollkommen recht«, sagte Chris.
    Kopfschüttelnd trat ich ans Ufer, schöpfte eine Handvoll des schneidend kalten Wassers und führte es an die Lippen. Es schmeckte kaum salzig, selbst der Jodgeruch war nicht mehr wahrnehmbar. Man hätte meinen können, es sei Wasser aus dem kleinen See in unserer Stadt.
    »Gehen wir zurück in die Burg«, schlug Chris vor. »Ich friere wie...«
    Chris suchte nach dem richtigen Wort. In all den Jahren auf der Insel war er nie mit heftiger Kälte konfrontiert gewesen. Es war also kein

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