Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
Kämpfer waren gerade genug, um die Brücken zu bewachen.
Nachdem Chris meine zerknitterte Visage erblickt hatte, schickte er mich umstandslos auf die Ostbrücke, für die ohnehin nur der Form halber ein Wachposten vorgesehen war. Tom und Tolik entsandte er zur Westbrücke, was völlig ausreichend erschien, da sie mit der Pistole bewaffnet waren. Er selbst machte sich mit Ilja, Meloman und Maljok zur Südbrücke auf. Trotz aller Verluste waren wir immer noch einsatzfähig.
Bei Einbruch der Dämmerung zog ich mich an und machte mich, noch etwas dösig vom langen Sonnenbad, auf den Rückweg zur Insel. Vor allen anderen traf ich
dort ein. Die Burg lag in ungewohnter Stille. Am Wehrgang, wo gewöhnlich das angeregte Stimmengewirr der abendlichen Heimkehrer zusammenfloss, schlug mir eine irritierende Lautlosigkeit entgegen. Auf der Suche nach Gesellschaft irrte ich durch die kühlen Gänge und spähte in verlassene Räume.
In Timurs Kammer endlich erblickte ich die Mädchen. Sie hatten sich am Fenster zusammengedrängt, während Timur auf seinem Bett lag und schlief. Auch hier herrschte Stille im Raum, aber eine lebendige Stille, erfüllt vom Atem des Schlafenden, vom gedämpften Flüstern einer kaum vernehmbaren Unterhaltung und vom Rascheln lockerer Kleidung, die ein sanfter Luftzug in Bewegung versetzte. Als ich eintrat, drehten die Mädchen mit einem Ruck die Köpfe in meine Richtung, und ich bemerkte sofort den verängstigten, fast panischen Ausdruck in Oljas Gesicht. Nachdem ich mich um ein beruhigendes, sanftes Lächeln bemüht hatte, verließ ich den Raum wieder.
Diese Dreckskerle, dachte ich, diese verdammten Bestien!
Boris, Achmets Freund und Helfer, hatte ich selbst getötet. Dabei war mir gar nicht bewusst gewesen, dass dies mein erster Mord war. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Schwert auf jemanden einschlug mit der festen Absicht, ihn ins Jenseits zu befördern. Er war der Erste, den ich nicht in einem Duell Mann gegen Mann getötet hatte.
Nachdem wir unsere Freunde befreit hatten, waren wir in die Kammer eingedrungen, in der die ganze Bande der Besatzer schlief. Selbst Timur, der sich kaum noch schleppen konnte, war mitgekommen, und auch Rita
und Inga. Sogar der unselige Maljok mit seiner aufgeplatzten Lippe war uns hinterhergetrottet, obwohl er die Welt nicht mehr verstand, nachdem ihm zuvor im Keller meine Handfläche ins Gesicht geflogen war.
Einer der fünf Jungen hatte nicht geschlafen, offenbar war er als Wache eingeteilt. Als er sein Schwert hob, schoss Tom sofort. Der Knall war so gewaltig in dem kleinen Raum, dass mir danach die Ohren dröhnten. Der Junge breitete die Arme aus und flog spektakulär rücklings gegen die Wand, wie im Film.
Eine Kugel ist eben ein ganz anderes Kaliber als ein Schwert oder ein Pfeil. Die Vorstellung von einem winzigen, unsichtbaren Bleigeschoss, das diskret ein Leben auslöscht, ist völlig falsch. Tatsächlich wirkt ein Schuss aus nächster Nähe wie der ungebremste Faustschlag eines Schwergewichtlers.
An allen anderen vorbei stürzte ich mich voller Hass zu dem Bett, aus dem uns Boris völlig entgeistert anstarrte. Früher hatte er auf mich den Eindruck eines schweigsamen, ja sogar schüchternen Jungen gemacht. Jetzt flüchtete er wie ein gehetztes Tier in den hintersten Winkel des Bettes, hielt schützend die Decke vor sich und fing an, mit erstickter Stimme etwas hervorzustammeln. Meine Ohren waren immer noch betäubt - wie durch dicke Watte drangen seine Worte zu mir durch.
»Gib mir ein Schwert, das ist nicht fair...«
»Nein.«
»Du wirst doch nicht auf einen Unbewaffneten...«
»Und ob!«
Kaltblütig stach ich ihn ab. Dann warf ich Chris, der hinter mir stand, einen fragenden Blick zu. Mit einem flüchtigen Kopfnicken billigte er meinen Mord. Das »ritterliche«
Spiel war endgültig vorbei. Vermutlich war es schon mit dem ersten Schuss aus Toms Pistole zu Ende gegangen, spätestens jedoch in dem Moment, als zwei Halbstarke ein völlig hilfloses kleines Mädchen vergewaltigt hatten.
»Bringt sie alle auf eine Brücke«, befahl Chris knapp.
»Auf welche?«, fragte Tolik.
»Egal. Bringt sie auf eine der Brücken und werft sie ins Meer.«
Tolik sah mich fragend an, als sei ich auch Kommandeur und als erwarte er von mir einen Befehl.
»Wenn sie Widerstand leisten, tötet sie vorher«, sagte ich gleichgültig.
Möglicherweise würde ich diesen Spruch noch bereuen; nicht seinen Inhalt, sondern die Gleichgültigkeit, mir der ich ihn
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