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Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov

Titel: Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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wiederholte ich nachdenklich.
    »Wir sind zu wenige auf der Insel, als dass wir alle gleich sein könnten«, fuhr Chris kryptisch fort. »Jeder hat ein oder zwei Charakterzüge, die ihn letztlich zu einem bestimmten Typ machen. Sershan war ein Skeptiker. Timur ist ein Soldat und Trainer. Romka - den hast du ja gar nicht richtig kennengelernt - war ein Spaßvogel.«
    »Ein Spitzbube«, präzisierte ich.
    »Ja.«
    »Und Tolik?«
    »Tolik?« Chris dachte nach. »Der... hmm... wie soll ich sagen? Er ist ein Anpassungskünstler. Jedenfalls tut er so, als wäre er hier zu Hause, verstehst du? Als er die Regeln der Großen Spiels erfuhr, hat er sich schnell daran gewöhnt, hat schnell fechten gelernt, schneller als alle anderen. Und normalerweise lebt er am unbeschwertesten von allen, geht baden, angelt Fische, denkt sich irgendwelche Spiele aus. Wenn es unausweichlich ist, zu kämpfen, dann kämpft er, und das sehr tapfer. Wenn es ohne Kampf abgeht, umso besser. Und er streitet sich nie
mit jemandem. Höchstens mit Sershan hat er sich ab und zu mal in die Wolle gekriegt.«
    »Vielleicht macht er es ja genau richtig?«, warf ich halblaut ein.
    Chris sagte dazu nichts. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Und dich, Dimka, kann ich am allerwenigsten einschätzen. Dabei ist es meine Aufgabe, zu verstehen, wie meine Leute ticken. Bei dir schaffe ich das aus irgendeinem Grund nicht.«
    »Bei mir ist eben keine Eigenschaft besonders ausgeprägt, vielleicht bin ich in jeder Hinsicht eine graue Maus«, scherzte ich selbstironisch.
    »Nein, an dir ist schon auch etwas Besonderes«, entgegnete Chris ernst. »Ich komme nur nicht dahinter, was.«
    »Spielt das denn eine Rolle?«
    »Weiß ich nicht. Die Fähigkeiten von Timur oder Tolik genauso wie meine Neigung, die Fäden in der Hand zu halten, sind für die Außerirdischen jedenfalls kein Problem, da wir uns innerhalb der Spielregeln bewegen. Man müsste irgendwo ein Schlupfloch finden und aus diesem Kreis ausbrechen. Es muss irgendwo eine Schwachstelle geben.«
    »Zwei-fels-oh-ne«, murmelte ich.
    Wir mussten lachen, und meine Stimmung hatte sich etwas aufgehellt.
    Plötzlich öffnete sich die Tür, als hätte jemand das Ende unseres Gesprächs abgewartet. Tolik spähte herein und sah uns Hilfe suchend an.
    »Was ist los?«, fragte Chris ungeduldig.
    »Kommt mit und seht selbst«, schlug Tolik vor. »Ist ein ulkiger Anblick.«
    Was Tolik als »ulkigen« Anblick bezeichnete, konnte
man höchstens aus sicherer Entfernung so nennen und das auch nur mit einigem Sarkasmus. Die Bewohner der Insel Nr. 27 fanden es sicher überhaupt nicht ulkig.
    Als wir hinter Tolik her auf den Wachturm stiegen, hatten sich dort bereits alle außer Timur versammelt. Die gewaltige schwarze Rauchsäule, die kerzengerade in den Himmel stieg, war sicherlich auf dem ganzen Archipel weithin sichtbar, die Quelle des Qualms konnte man jedoch nur vom Wachturm aus erkennen: Es war die Burg der Insel Nr. 27.
    »Von Bränden auf den Inseln habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Chris erstaunt und bahnte sich einen Weg zum besten Aussichtsplatz auf der Plattform.
    »Die Außerirdischen?«, mutmaßte Ilja vorsichtig.
    Chris schüttelte den Kopf. »Nein, das waren Jungen von einer anderen Insel.« Er hatte sich ganz am Rand der Plattform aufs Geländer gestützt und starrte gebannt auf die gigantische Rauchwolke.
    »Der Machtkampf geht weiter«, sagte er resigniert.
    Noch nie hatten wir uns so hilflos und schuldig gefühlt wie im Angesicht der brennenden Burg. Schweigend blickten wir auf das Spektakel, das nicht zuletzt auch das Werk unserer Machenschaften war. Denn schließlich war die Konföderation unsere Idee gewesen. Ein schöner Traum, der jetzt diejenigen auffraß, die an ihn geglaubt hatten. Dass wir selbst darunter zu leiden hatten, war schon schlimm genug, dass es jetzt auch noch andere traf, erfüllte uns mit heftiger Bitterkeit.
     
    Ich konnte nicht einschlafen. Nachdem wir in ziemlich getrübter Stimmung und ohne großen Appetit zu Abend gegessen hatten, gingen wir rasch auf unsere Zimmer.
Wir waren inzwischen so wenige, dass jeder eine eigene Schlafkammer hatte, nur dass sich darüber keiner freuen konnte. Rastlos wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, zählte bis hundert, dachte mir alle möglichen Geschichten aus - es half alles nichts.
    Auf den Inseln stürzte man von einem Extrem ins andere: Einmal schlief man zwanzig Stunden wie ein Toter, dann wieder quälte einen die Schlaflosigkeit.

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