Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
dazu bewogen hat. Katja, das Mädchen, von dem die Aufzeichnungen stammten, erwähnte nichts davon. Als hätte der Satz »Wir beschlossen, uns in der Kapelle zu verbarrikadieren« schon alles erklärt. Bemerkenswerterweise hatten die Kommunarden darauf verzichtet, die religiösen Symbole, die eigentlich nicht in ihr Weltbild passten, aus der Kapelle zu entfernen.
Ich konnte mich nicht von der Lektüre losreißen; immer weiter blätterte ich die trockenen, brüchigen Seiten um und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich Episoden vorlas, die mir bekannt vorkamen.
»Edik und Vitja von der Insel Nr. 12 haben Dinka in ihre Kammer gezerrt und vergewaltigt. Da haben Mischa und Rinat sich mit Maschinengewehren bewaffnet und sind auf die Brücke gestürmt...«
»Als wir uns zurückzogen, schoss Willi einen Pfeil aus seinem Bogen ab und tötete Semjon. Wir waren überhaupt nicht auf der Hut gewesen, da wir wussten, dass sie keine Patronen mehr hatten. Außerdem hatten wir gedacht, dass Willi als Sohn eines Arbeiters zu uns halten würde. Jetzt wissen wir, dass er ein Faschist war. Die
Jungen griffen zu ihren Schwertern und stürzten sich in den Nahkampf...«
»Wir werden jeden Tag angegriffen. Man wirft uns vor, wir seien schuld an dem ganzen Schlamassel. Dabei wollten wir nur das Beste...«
Seite für Seite las ich laut vor. Inzwischen hatten sich alle um mich herum versammelt, auch Timur, der ein Maschinengewehr vom Typ PPSch-41 in Händen hielt, und Ilja, der mit einem schweren gelben Klotz herumspielte, bis Meloman die Vermutung äußerte, dass es sich dabei um eine Dynamitstange handeln könnte. Auch die Mädchen hörten zu. Olja weinte leise und schmiegte sich an Inga. Ritas Miene hatte sich verfinstert, in ihren Augen lag Bitterkeit und Trauer.
»Nick hat gesagt, ich sei das letzte Mädchen auf der Insel und müsse sie deshalb alle ›inspirieren‹. Mischa hat gesagt, ich solle das selbst entscheiden. Ich habe zugestimmt, aber ich ekle mich davor und empfinde es überhaupt nicht als angenehm. Pak schaut mich gekränkt an und sagt, dass er keine Lust habe, dabei wäre ich ihm am wenigsten böse...«
»Heute ist uns das Wasser ausgegangen. Nick hat versucht, die Mauer aufzubrechen. Mischa hat nichts dazu gesagt, und Pak hat versucht, Nick zu helfen. Aber der Zement ist schon ausgehärtet, sie haben es nicht geschafft. Wahrscheinlich sind wir vom Hunger so geschwächt...«
»Pak hat sich gestern mit Mischas Pistole erschossen. Kommunarden machen so etwas nicht, aber es tut mir trotzdem leid um ihn. Ich weine schon den ganzen Tag...«
»Ein erbärmlicher Gestank erfüllt den Raum, und mein Kopf schmerzt. Mischa hat gesagt, dies sei die letzte Kerze,
ich kann also nicht mehr weiterschreiben. Wir haben uns bemüht, richtig gute Komsomolzen zu sein, aber anscheinend sind wir damit gescheitert. Sobald die Soldaten der Roten Armee uns finden, müssen sie als Erstes die Marsmenschen suchen und sie töten. Oder sie sollen eine große Gerichtsverhandlung abhalten und sie danach töten. Ich heiße Katja und bin in der siebten Klasse. Das war’s.«
Hier endeten die Aufzeichnungen. Bewegt ließ ich das Heft sinken und sah Chris erwartungsvoll an, als könnte er noch etwas hinzufügen. Doch der Kommandeur blickte nur nervös zur Uhr.
»Vorwärts, auf die Brücken!«, befahl er energisch. »Sonst werden wir noch in der Burg überrannt.«
Das Maschinengewehr umgehängt, eilte Timur die Treppe hinauf zum Wehrgang. Die anderen folgten ihm. Bevor ich die Burg ebenfalls verließ, legte ich das Tagebuch sorgsam auf den Tisch im Thronsaal.
Zwar wurden wir nicht in der Burg überrannt, aber einige feindliche Kämpfer befanden sich bereits auf unserer Seite der Brücke auf dem Vormarsch. Als sie jedoch unsere Maschinengewehre erspähten, machten sie auf dem Fuß kehrt und suchten das Weite. Toms Pistole hatte ihnen schon gehörigen Respekt vor Schusswaffen beigebracht. Timur klammerte sich an die PPSch-41 und sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.
»Bedauerst du, dass es nicht zum Kampf gekommen ist?«, fragte ich.
»Keineswegs«, erwiderte Timur und streckte mir das Maschinengewehr hin. »Damit kann man nicht mal einen Hirsch aus zwei Metern Entfernung erschießen. Der Verschluss ist komplett durchgerostet.«
Nachdenklich beobachtete ich die flüchtenden Jungen. Die Sonne schien ihnen auf den Rücken, sie hätten hervorragende Zielscheiben abgegeben.
»In zwei oder drei Tagen werden sie dahinterkommen«, orakelte ich.
»Na und,
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