Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
lagen einige Steinquader. Die Tür war von innen zugemauert worden, von außen hatte man sie lediglich verputzt.
Chris bückte sich und hob etwas vom Boden auf.
»Sieh mal, Dima, ein Schreibheft.«
Wir hatten Glück. Das Papier war gut erhalten. Der Umschlag war zwar vergilbt und die Seiten ein wenig zerfleddert, aber die Buchstaben konnte man selbst im schwachen Licht der Fackel einwandfrei erkennen.
Timur, der die Kapelle als Dritter betreten hatte, stieß einen gedehnten Pfiff aus, als er die Skelette erblickte. Viel interessanter schienen ihm jedoch die Bretterkisten zu sein, an denen er sich sogleich zu schaffen machte.
Mit dem Brecheisen stemmte er eine davon auf. Das Holz ächzte, bevor es krachend barst und in Trümmern gegen die Wand flog.
»Chris! Da sind Waffen drin!«, rief Timur begeistert.
Der Waffenfund ließ uns kalt. Als hätten wir uns abgesprochen, verließen Chris und ich den Raum. Kaum waren wir draußen, wurden wir von Tolik und Meloman abgelöst, die mit vor Neugier leuchtenden Augen in die Kapelle glitten. Chris ging zum Fenster und drückte mir das Schreibheft in die Hand.
»Da... Lies!«
Im Gang standen nur noch die Mädchen, die Jungen stöberten zwischen den Kisten herum. Das Krachen splitternden Holzes drang nach draußen und - »Wow!« - ein begeisterter Aufschrei von Ilja.
»Lies vor, Dima«, sagte schüchtern Maljok, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Vielleicht hatte er dasselbe Gefühl wie Chris und ich: dass das, was in dem Heft geschrieben stand, viel wichtiger war als alles, was sonst in der Kapelle zu finden war.
Die Zeilen waren mit einer schnörkeligen, sauberen Handschrift, also vermutlich von einem Mädchen geschrieben worden. Die Tinte war in den Jahren nicht verblichen, sondern eher noch dunkler geworden.
»Sechster Juli neunzehnhundertsiebenundvierzig«, las ich vor. »Vor zwanzig Tagen haben wir unsere Union gegründet...«
Ein Jubelschrei unterbrach mich, und Timur steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Chris, hier sind zwei Maschinengewehre!«, verkündete er mit dem Stolz eines erfolgreichen Trophäenjägers.
Wir ignorierten Timurs Maschinengewehre.
Mit unsicherer Stimme las ich die ersten Zeilen vor: »Umgeben von den feindlichen Kräften der kapitalistischen Welt hat unsere Insel sich dazu entschlossen, nicht aufzugeben, sondern das Banner der proletarischen Revolution hochzuhalten …«
So seltsam rührig diese Worte Jahrzehnte später auch klingen mochten, lösten sie doch vor allem tiefe Traurigkeit in mir aus.
8
DAS TAGEBUCH DER KOMMUNARDEN
Die Mädchen und Jungen, die vor fünfundvierzig Jahren auf der Insel gelebt hatten, hielten die Außerirdischen für Marsmenschen. Außerdem wähnten sie sich auf der Erde, irgendwo im Pazifischen Ozean. Das waren auch schon die wesentlichen Unterschiede, ansonsten war bei ihnen fast alles genauso wie bei uns.
Sie hatten genau wie wir einen entschlossenen und mutigen Kommandeur, nur hieß er Mischa und nicht Chris. Wie wir hatten sie den Entschluss gefasst, die Inseln zu vereinigen, nicht zu einer Konföderation, sondern zu einer Union, was nur ein anderer Name für ein und dasselbe war. Sie hatten auch ein eigenes Schiff, das etwas größer als die Aliens Nightmare war. Auch in ihren Reihen fand sich ein Verräter, der im Keller »über Funk« Kontakt zu den Außerirdischen hielt. Und in ihrer Union hatte sich so wie bei unserer Konföderation eine Revolte ereignet, in deren Folge sie sich auf ihrer Insel verbarrikadieren mussten.
Die Kommunarden - so nannten sich diese Jungen und Mädchen - verfügten über Waffen, die während des Zweiten Weltkriegs auf die Insel gelangt waren. Vielleicht aus diesem Grund wurde zur damaligen Zeit viel mehr gestorben als zu unserer; alle zwei bis drei Tage kam »Ersatz« auf der Insel Nr. 36 an.
Unsere Wege verliefen vollständig parallel, wir verwendeten lediglich verschiedene Begriffe für dieselben
Dinge - die Kommunarden gebrauchten Wörter wie Schädlinge, Volksfeinde oder Kapitalistenknechte.
Die Geschichte der Inseln drehte sich im Kreis. Anscheinend waren auch diese Jungen und Mädchen nicht die Ersten gewesen, die den Versuch unternahmen, die Inseln zu vereinigen.
Allerdings wären wir wohl kaum dazu imstande gewesen, uns im finstersten Raum der Burg, der Kapelle, zwischen alten Ikonen lebendig einzumauern. Sie hatten es todesmutig getan, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie keine Chance hatten, zu siegen. Ich weiß nicht, was sie
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