Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
dann müssen wir uns in diesen zwei, drei Tagen eben etwas Neues ausdenken«, entgegnete Timur gelassen.
Es war einer jener Tage, die sich quälend langsam ihrem Ende entgegenschleppten. Sehnsüchtig erwarteten wir den Einbruch der Dunkelheit und das Ende des mühseligen Wachdienstes. Die Sonne wollte einfach nicht untergehen, als würde sie in ihrer Bahn zum Horizont von unsichtbarer Hand gebremst.
Als es endlich Abend wurde und die Brücken begannen, sich knarrend auseinanderzuschieben, war mir danach, allein zu sein. Während Tolik und Meloman an den Strand gingen, um zu baden, und Chris sich mit Timur auf den Wehrgang begab, um neue Pläne zu schmieden, stieg ich auf den Wachturm hinauf.
Warum es wohl auf allen Burgen einen Wachturm gibt? Dient er wirklich ausschließlich zu Beobachtungszwecken? Mir scheint, der Wachturm einer Burg bildet auch eine Art ästhetisches Gegengewicht zur schwerfälligen, massiven Erscheinung des Hauptbaus. Eine Burg muss uneinnehmbar und furchteinflößend wirken, schließlich ist sie kein Ferienhaus, sondern in erster Linie eine mehr oder weniger komfortable Befestigungsanlage. Aber anscheinend bleibt in uns der Wunsch nach Schönheit auch dann noch lebendig, wenn wir umgeben sind von dicken Mauern und Tonnen von Stein und
Eisen. Und aus diesem Grund baut man Wachtürme auf die Burgen, filigrane, in den Himmel gestochene Nadeln aus Stein, wie zum Beweis, dass auch einer Kriegsfestung die feingliedrige Zerbrechlichkeit orientalischer Paläste anhaften kann. Auch der Krieg möchte sich ein wenig herausputzen, ja selbst der Tod würde sich schämen, in einem zerschlissenen Leichengewand und mit zerbeulter Sense das Haus des Todgeweihten zu betreten.
Am Rand der Aussichtsplattform stützte ich mich auf das glatte Steingeländer, das von den Berührungen Tausender Hände vor mir ganz blank poliert war. Meine Gedanken kreisten um die Jungen und Mädchen, die vor einem halben Jahrhundert hier gelebt hatten. Sie hatten es wohl noch schwerer gehabt als wir. Von fremdplanetarischen Eroberern, die uns zumindest aus Filmen und Büchern ein Begriff waren, hatten sie noch nie etwas gehört, und auf die Idee, dass sie gar nicht mehr auf der Erde waren und ihre Kopien dort weiterlebten, wären sie im Traum nicht gekommen.
Was mochten sie empfunden haben, als es sie aus ihrer vom Krieg verwüsteten Heimat auf die Inseln verschlug? Vielleicht waren sie anfangs sogar begeistert von der grandiosen Märchenkulisse, die sie umgab? Das Meer, die Inseln, Burgen, kunstvoll gefertigte Waffen - es muss ein böses Erwachen gewesen sein, als sie begriffen, dass der Krieg sie erneut eingeholt hatte, dass sie dazu verurteilt waren, zu töten und zu sterben, wie zum Hohn unter einer strahlenden Sonne, über zärtlich wogenden Wellen, auf grazil geschwungenen, von einer warmen Brise umwehten Brückenbögen.
»Dima.«
Erschrocken fuhr ich herum. Inga war so leise näher
gekommen, dass ich ihre Schritte nicht gehört hatte. Wir beide waren schon lange nicht mehr allein gewesen. Erst jetzt, da wir uns unter vier Augen gegenüberstanden, fiel es mir auf. Über längere Zeit waren wir uns, vielleicht aus Verlegenheit, vielleicht auch völlig unbewusst, aus dem Weg gegangen.
»Bist du traurig?«, fragte sie.
»Wie kommst du darauf?«
Der Versuch, meine bedrückte Stimmung mit dieser Gegenfrage zu kaschieren, scheiterte kläglich.
»Ich bin auch traurig.«
»Wegen des Tagebuchs, oder?«, fragte ich.
Inga nickte. »Die Außerirdischen haben alles genau durchdacht«, sagte sie leise und starrte aufs Meer hinaus. »Sie kennen jeden unserer Schritte, aber nicht deshalb, weil es Verräter unter uns gibt. Auf den Inseln wiederholt sich einfach alles. Sie haben unsere Reaktionen in den verschiedenen Situationen längst studiert. Sie wissen genau, was wir wann tun und lassen.«
»Vielleicht geht es ihnen ja eben darum.«
»Vielleicht, ja.«
Lange sah ich Inga in die Augen. Es ging mir durch den Kopf, dass ich um mich selbst fast keine Angst hatte. Auch um Chris oder Rita hatte ich keine Angst. Aber wenn Inga etwas zustieße, würde ich mich die Brücke hinabstürzen. Ich liebte sie beinahe und durfte doch gar nicht darüber nachdenken. Sonst würde das »beinahe« womöglich noch verschwinden, und ich war fest entschlossen, nicht das geringste Risiko einzugehen. Im Zusammenhang mit Inga würde ich gegen keine Regel des Großen Spiels verstoßen. Ich musste mich mit den drei oder vier Jahren abfinden, die wir
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