Die Rollbahn
Koch!«
»Noch besser wäre der Stabsintendant, der die Verpflegung nach vorne schickt.«
Leskau schritt über den schmalen Pfad durch den Sumpf. Das Schilf leuchtete orangenfarbig in den letzten Strahlen der Sommersonne. Die Sumpfhühner kreischten und zankten sich um einen Fisch. Kunze sah Leskau nach, ehe er zurück in seinen Schreibstubenbunker ging. Seit dem Tode Simpelmeiers, den Kunze vergaß mitzunehmen, machte er seine Schreibarbeiten allein. Ein junger Gefreiter war ihm als Schreiber von Oberleutnant Faber versprochen worden … aber bisher war er noch nicht erschienen. Kunze war das ganz angenehm … denn erstens sah keiner mehr zu, wenn er von der Kompanie Verpflegung jeden Tag einige Gramm zur Seite schaffte und in einer Blechkiste verbarg, und zum anderen würde ihn ein neuer Schreiber immer wieder an den schreienden, zu ihm hinkriechenden und bettelnden Simpelmeier erinnern. Eine Erinnerung, die Kunze aus seinem Gedächtnis streichen wollte.
Endlos dehnten sich die Beresinasümpfe. Die Dämmerung zog über das Schilf. Die Gräser wurden grau und stumpf. Grillen zirpten. Ab und zu klatschte es seitwärts des Weges in den moorigen Boden … Frösche und Kröten flüchteten vor dem Schritt des Menschen.
Gleich werde ich Theo sehen, dachte Leskau. Er kann nicht mehr weit sein. Vom Bataillon bis zum Kompanietroß geht man gut zwei Stunden. Man muß vorsichtig gehen … ein Schritt zur Seite, und es ist keiner da, der einen noch retten kann.
Er blieb stehen und lauschte.
Klapperte da eine Gasmaskenbüchse? Knirschte ein Schritt?
»Theo«, rief Leskau in die Dunkelheit. »Theo! Hier ist Fritz …«
Das Schweigen der Einsamkeit umgab ihn.
»Theo!« schrie er laut. Man mußte seine Stimme in der Nacht Hunderte von Metern weit hören. »Theo!«
Im Sumpf raschelte es. Ein Biber flüchtete ins Schilf. Strakuweit würde auf ihn geschossen haben … er fraß alles, was eßbar war.
»Theo!« schrie Leskau. »Mensch, melde dich doch! Laß den Blödsinn mit dem Versteckspielen …«
Strakuweit tappte durch die Beresinasümpfe. Er pfiff vor sich hin und dachte an Leutnant Vogel, der jetzt vor dem beschmutzten Donnerbalken stehen würde und befahl, ihn blankzuscheuern. Ob er eine Rede halten würde, dachte Strakuweit versonnen. Soldaten! Gleich wird der Herr Major die neue Anlage einweihen! Sauberkeit ist eine der Tugenden des deutschen Soldaten. Dazu gehört ein richtiges und hygienisches Scheißhaus! Wo die Sauberkeit nachläßt, beginnt der Zerfall, das Chaos! Der beste Beweis ist der Obergefreite Strakuweit, der heute unsere neue Anlage wie ein Schwein beschmutzte …
Strakuweit lächelte vor sich hin. Latrinen-Vogel, dachte er. Das ist ein neuer Name. Der wird durch die Division gehen. Dafür müßte man sorgen. Kinder, welch ein Mist wäre der ganze Krieg, wenn es nicht Typen wie Vogel und Strakuweit gäbe …
Er stutzte und verhielt den Schritt.
Vor ihm, auf einem Schilfhalm, der das Schilfdickicht weit überragte, wiegte sich ein Vogel in der Abendsonne. Ein herrlicher, kleiner, bunter Vogel, wie ihn Strakuweit noch nie gesehen hatte. In seinem gespreizten Gefieder lag das Rot der Sonne, das letzte Blau des Sommerhimmels, das Grün der Gräser und das Graubraun des sumpfigen Bodens.
Der Vogel sang.
Das war etwas, was Strakuweit wie angewurzelt stehen ließ. Inmitten des Krieges, umgeben von brennenden Städten und Dörfern, hineingesetzt in eine Armee von Männern, die man aufeinanderhetzte, damit sie sich töten, sang ein kleiner, bunter, lustiger Vogel mit heller, trillernder Stimme.
Strakuweit sah den kleinen Vogel an. Es ist wie zu Hause, durchfuhr es ihn. Als ich ein kleiner Junge war, hatte Mutter einen Kanarienvogel. In einem kleinen Holzbauer hüpfte er hin und her, steckte den spitzen Schnabel durch das Drahtgitter und klapperte. Wenn er sang, blähte er die Kehle dick auf, legte den Kopf in den Nacken, schloß die kleinen Augen und trillerte mit einem Atemvorrat, der den kleinen Theo Strakuweit staunen ließ. Wenige Wochen später geschah der erste Einbruch auf der langen Liste der Strakuweitschen Taten … aus der Drogerie von Pillkallen wurde ein Vogelbauer aus Messing gestohlen. Damals war der Landjäger so verständig und nannte es einen Jungenstreich aus Tierliebe … und die Mutter weinte eine Woche lang über den ungeratenen Theo. Als der Vogel starb, weil Onkel Peter ihm Kuchen zu fressen gab, hatte der kleine Theo seinen ersten großen Weltschmerz, der haften blieb bis auf den
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