Die Romanow-Prophezeiung
und diese Trennung beenden in solch einer Zeit, wenn man zusammen sein muss.
Unser Freund ist gerade gegangen. Er hat unseren Kleinen wieder einmal gerettet. O gnädiger Jesus, dem Herrn sei Dank, dass wir ihn haben. Der Schmerz war grausam, mein Herz zerrissen von diesem Anblick, aber unser Kleiner schläft nun friedlich. Ich bin sicher, morgen ist er wieder gesund.
Ein solch schönes Wetter, keine Wolken. Das bedeutet, wir sollen zuversichtlich sein und hoffen; auch wenn alles um uns pechschwarz erscheint, wacht doch der Herr über uns. Wir kennen nicht Seine Wege, wissen nicht, wie Er uns helfen wird, doch Er hört alle unsere Gebete. Unser Freund versichert das immer wieder.
Ich muss dir noch erzählen, dass unser Freund unmittelbar vor seinem Aufbruch einen ganz sonderbaren Krampfanfall hatte. Ich fürchtete schon, er könne krank sein. Was würde unser Kleiner nur ohne ihn tun? Er stürzte zu Boden und murmelte, er werde diese Welt noch vor dem neuen Jahr verlassen und sehe Berge von Leichen, mehrere Großherzöge und Hunderte von Grafen. Die Newa werde rot sein von ihrem Blut, sagte er. Seine Worte machten mir Angst.
Zum Himmel schauend erklärte er mir, dass, falls er von Adligen ermordet werde, deren Hände fünfundzwanzig Jahre lang blutbefleckt bleiben würden. Sie würden Russland verlassen. Bruder werde sich gegen Bruder erheben, sie würden einander in ihrem Hass töten, und schließlich werde es keine Adligen im Land mehr geben. Und am beunruhigendsten war, wie er sagte, dass, falls einer unserer Verwandten ihn ermorde, keiner aus unserer Familie noch länger als zwei Jahre zu leben habe. Wir würden alle vom russischen Volk ermordet.
Er brachte mich dazu, dies unverzüglich aufzuschreiben. Dann meinte er, ich solle nicht verzweifeln. Es gäbe eine Erlösung. Derjenige, der die meiste Schuld auf sich geladen habe, werde seinen Irrtum erkennen und dafür sorgen, dass unser Blut wieder auferstehen werde. In der Tat grenzte sein hochtrabendes Gerede an Unsinn, und zum ersten Mal fragte ich mich, ob der Alkohol, nach dem er stank, sein Gehirn vernebelt haben mochte. Er wiederholte mehrfach, dass nur ein Rabe und ein Adler Erfolg haben könnten, wo alle scheitern, und dass Tiere in ihrer Unschuld den Weg hüten und weisen würden. Ihr Urteilsspruch werde zuletzt über den Erfolg entscheiden. Gott der Herr, sagte er weiter, werde es möglich machen, über das Recht des Richtigen Gewissheit zu erlangen. Am verwirrendsten aber war seine Aussage, zwölf müssten sterben, bevor die Erneuerung vollendet sei.
Ich versuchte noch, ihm Genaueres zu entlocken, doch er verstummte und beharrte darauf, dass ich die Prophezeiung wortwörtlich niederschreibe und dir von seiner Vision berichte. Er sprach, als könne uns etwas zustoßen, aber ich versicherte ihm, unser Väterchen habe das Land fest im Griff. Das war ihm aber kein Trost, und so quälten mich seine Worte die ganze Nacht. O mein Schatz, ich halte Dich fest und lasse nie zu, dass jemand Deine leuchtende Seele verletzt. Ich küsse, küsse, küsse und segne Dich, der Du mich immer verstehst. Ich hoffe, Du kommst bald.
Dein Frauchen
Lord wusste, dass der Brief von Alexandra, der letzten russischen Zarin, verfasst war. Sie hatte über Jahrzehnte Tagebuch geführt. Dasselbe hatte auch ihr Mann Nikolaus getan, und so boten beide Tagebücher nach ihrem Tod völlig neue Einblicke in das Leben am Hof. Fast siebenhundert ihrer Briefe wurden nach ihrer Hinrichtung in Jekaterinburg gefunden. Er hatte auch andere Tagebuchauszüge und die meisten Briefe gelesen. Sie waren in mehreren jüngst veröffentlichten Büchern Wort für Wort abgedruckt worden, deshalb wusste er, dass mit »unser Freund« Rasputin gemeint war, da sowohl Alexandra als auch Nikolaus davon ausgehen mussten, dass ihre Briefe von anderen gelesen wurden und niemand ihr uneingeschränktes Vertrauen in Rasputin teilte.
»So tief in Gedanken versunken«, sagte eine Stimme auf Russisch.
Er blickte auf.
An der anderen Seite des Tisches stand ein älterer Mann. Er hatte helle Haut und blassblaue Augen, einen schmalen Brustkorb und Sommersprossen an den Handgelenken. Sein Kopf war weitgehend kahl und der verbliebene Haarkranz nur ein grauer Flaum. Er trug eine Brille mit Stahlgestell und eine Fliege. Lord hatte den Mann schon öfter in den Akten stöbern sehen; er war einer von etlichen Leuten, die ebenso hart zu arbeiten schienen wie er selbst.
»Ach, ich war gerade in Gedanken im Jahr 1916. Diese
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