Die Romanow-Prophezeiung
Roten Platz rollen würden.«
»Im Grunde sind die keine Spur besser als Straßenbettler«, erklärte Paschkow. »Sie haben die Geheimnisse unserer Staatsführer bewahrt und dafür ihre Privilegien genossen: eine schöne Wohnung, mehr Brot, ein paar Tage zusätzlichen Urlaub im Sommer. Aber für das, was man bekommt, soll man auch arbeiten – sagt man das nicht so in Amerika?«
Lord antwortete nicht. Stattdessen fragte er: »Was halten Sie von der Zarenkommission?«
»Ich habe für sie gestimmt. Schlechter kann es ein Zar schließlich auch nicht machen.«
Lord hatte den Eindruck, dass die Mehrheit der Bevölkerung so dachte.
»Es ist ungewöhnlich, dass ein Amerikaner unsere Sprache so gut beherrscht.«
Er zuckte die Achseln. »Ihr Land fasziniert mich eben.«
»Waren Sie immer schon an Russland interessiert?«
»Seit meiner Kindheit. Ich habe schon früh Bücher über Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen gelesen.«
»Und jetzt sind Sie also ein Mitglied unserer Zarenkommission. Sie sind auf dem besten Weg, Geschichte zu schreiben.« Paschkow zeigte auf die Blätter auf dem Tisch. »Die sind ja ziemlich alt. Gehören sie zu den ›schützenswerten Papieren‹?«
»Ich bin vor einer Woche auf sie gestoßen.«
»Ich erkenne die Handschrift. Den da hat Alexandra geschrieben. Sie verfasste alle ihre Briefe und Tagebücher in englischer Sprache. Die Russen hassten sie, weil sie eine gebürtige Deutsche war. Ich fand das immer ziemlich unfair. Alexandra wurde das Opfer zahlreicher Missverständnisse.«
Lord schob ihm das Blatt hin. Vielleicht war von diesem intelligenten Russen ja etwas zu erfahren. Paschkow las den Brief und sagte dann: »Sie hatte eine sehr blumige Ausdrucksweise; das hier ist noch relativ zurückhaltend formuliert. Sie und Nikolaus schrieben einander zahlreiche Liebesbriefe.«
»Ich lese sie nicht gerne – ich fühle mich dann immer wie ein Eindringling. Gerade habe ich etwas über die Hinrichtung gelesen. Jurowski muss ja ein wahrer Teufel gewesen sein.«
»Jurowskis Sohn behauptet, sein Vater habe immer bedauert, an der Exekution beteiligt gewesen zu sein. Aber wer kann das schon beurteilen? Noch zwanzig Jahre danach hielt er vor bolschewistischen Gruppen Vorträge über die Morde. Er war ganz offensichtlich stolz darauf.«
»Sehen Sie sich das einmal an.« Lord reichte Paschkow das Schreiben Lenins.
Der Russe las die Seite sehr gründlich und erklärte dann: »Eindeutig Lenin. Ich bin auch mit seinem Stil vertraut. Aber seltsam ist das schon.«
»Das finde ich auch.«
Paschkows Augen leuchteten auf. »Sie glauben doch wohl nicht an diese alten Geschichten, die besagen, dass zwei Mitglieder der Zarenfamilie die Exekution in Jekaterinburg überlebt haben?«
Lord zuckte die Achseln. »Die Leichen von Alexej und Anastasia hat man bis heute nicht gefunden. Und jetzt das.«
Paschkow grinste. »Ihr Amerikaner seht doch überall gleich eine Verschwörung.«
»Im Augenblick gehört das zu meinem Job.«
»Ihre Aufgabe besteht darin, Stefan Baklanows Anspruch auf den Thron zu untermauern, richtig?«
Lord war ein wenig überrascht und fragte sich, woher sein Gegenüber so genau Bescheid wusste.
Paschkow umfasste ihre Umgebung mit einer Geste. »Wieder einmal die Damen, Mr. Lord. Die wissen alles. Über Ihre Nachforschungen wird Buch geführt, und glauben Sie mir, denen entgeht nichts. Sind Sie unserem so genannten ›Thronanwärter‹ schon einmal persönlich begegnet?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich nicht, aber der Mann, für den ich arbeite.«
»Baklanow hat ebenso wenig das Zeug zum Herrscher wie Michail Romanow vor vierhundert Jahren. Er ist ein Schwächling. Aber anders als Michail, für den sein Vater die Entscheidungen traf, wird Baklanow ganz auf sich gestellt sein; und viele warten nur darauf, dass er scheitert.«
Dieser russische Akademiker hatte wohl nicht ganz Unrecht. Nach allem, was Lord über Baklanow gelesen hatte, schien es dem mehr um Macht und Ansehen zu gehen, als darum, das Land vernünftig zu regieren.
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr. Lord?«
»Selbstverständlich.«
»Waren Sie schon in den Archiven von St. Petersburg?«
Lord schüttelte den Kopf.
»Dort könnte viel Nützliches zu finden sein. Unzählige von Lenins Schreiben lagern da sowie ein Großteil der Tagebücher und Briefe des Zaren und der Zarin.« Er deutete auf die vor ihnen liegenden Blätter. »Vielleicht stoßen Sie dort auf etwas, das Ihnen hilft zu verstehen, was das
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