Die Romanow-Prophezeiung
Abteil flüchten und Gangster an Ihre Tür klopfen? Sie scheinen kein bisschen Angst zu haben.«
»Sollte ich das?«
»Das wollte ich damit nicht sagen. Ich bin wirklich harmlos. Aber in Amerika würde man das wohl als gefährliche Situation einstufen.«
Sie zuckte die Achseln. »Gefährlich kommen Sie mir eigentlich nicht vor. Ich musste eher an meine Großmutter denken, als ich Sie sah.«
Er wartete auf die Erklärung.
»Meine Großmutter ist in der Zeit von Chruschtschow und Breschnew groß geworden. Die Amerikaner hatten damals Spione ins Land geschleust, die den Boden auf Radioaktivität überprüfen sollten; sie wollten herausfinden, wo die Raketensilos versteckt sind. Alle wurden vor diesen Spionen gewarnt; sie seien gefährlich, hieß es, und jeder sollte nach ihnen Ausschau halten. Einmal sah meine Großmutter im Wald dann einen Fremden, der Pilze sammelte. Er war wie ein Bauer gekleidet und trug einen Weidenkorb wie alle Pilzsammler. Sie ging völlig furchtlos auf ihn zu und sagte: ›Hallo, Spion.‹ Er starrte sie schockiert an und versuchte gar nicht erst, ihre Anschuldigung abzustreiten. Stattdessen klagte er: ›Jetzt habe ich so viele Schulungen hinter mir und alles über Russland gelernt, was ich nur lernen konnte. Woher wussten Sie, dass ich ein Spion bin?‹ ›Ganz einfach‹, erklärte meine Großmutter. ›Ich lebe hier schon ein ganzes Leben, und Sie sind der erste Schwarze, dem ich je in diesen Wäldern begegnet bin.‹ Dasselbe gilt auch für Sie, Miles Lord. Sie sind der erste Schwarze, dem ich je in diesem Zug begegnet bin.«
Er lächelte. »Ihre Großmutter scheint ja eine praktisch denkende Frau gewesen zu sein.«
»Allerdings. Bis die Kommunisten sie eines Tages abgeholt haben. Irgendwie muss diese Frau wohl eine Bedrohung für diese Weltmacht dargestellt haben.«
Er hatte gelesen, dass Stalin im Namen des Vaterlands zwanzig Millionen Menschen hatte umbringen lassen, und die Parteisekretäre und russischen Präsidenten nach ihm waren auch keine Waisenkinder gewesen. Wie hatte Lenin es noch einmal formuliert? Besser hundert Unschuldige verhaften als riskieren, dass auch nur ein einziger Regimefeind frei herumläuft.
»Das tut mir Leid.«
»Warum sollte es Ihnen Leid tun?«
»Ich weiß auch nicht. Das sagt man halt in einer solchen Situation so. Was hätte ich denn Ihrer Ansicht nach sagen sollen? Zu schade, dass Ihre Großmutter von einem Haufen von Fanatikern abgeschlachtet wurde?«
»Ja, genau das waren sie.«
»Haben Sie mich deswegen versteckt?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hasse die Regierung genauso wie die Mafija . Das ist doch alles ein und dasselbe.«
»Glauben Sie, diese Männer waren von der Mafija ?«
»Zweifellos.«
»Ich muss einen Schaffner auftreiben und mit dem Zugführer sprechen.«
Sie lächelte. »Das wäre keine gute Idee. In diesem Land ist jeder käuflich. Falls diese Männer hinter Ihnen her sind, kaufen sie alle in diesem Zug.«
Sie hatte Recht. Die Polizei war kaum besser als die Mafija . Er musste an diesen Inspektor Oleg denken. Er hatte dem untersetzten Russen vom ersten Augenblick an nicht über den Weg getraut. »Und was würden Sie vorschlagen?«
»Ich habe keine Vorschläge. Sie sind doch der Anwalt für die Zarenkommission. Denken Sie sich was aus.«
Er bemerkte ihre Reisetasche auf dem Bett mit dem aufgestickten Emblem MOSKAUER STAATSZIRKUS. »Sie haben denen erzählt, dass Sie im Zirkus auftreten. Ist das wahr?«
»Natürlich.«
»Und was machen Sie da?«
»Raten Sie mal. Was glauben Sie denn?«
»Mit Ihrer geringen Körpergröße wären Sie die ideale Akrobatin.« Er betrachtete ihre dunklen Sportschuhe. »Ihre Füße sind schmal und kompakt, Ihre Zehen vermutlich lang. Ihre Arme kurz, aber muskulös. Ich bleibe bei Akrobatin – vielleicht Seiltänzerin?«
Sie lächelte. »Nicht schlecht. Haben Sie mich schon mal auftreten sehen?«
»Ich war schon seit vielen Jahren nicht mehr im Zirkus.«
Er fragte sich, wie alt sie sein mochte, und schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig.
»Wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so gut beherrschen?«, fragte sie.
»Ich habe fünf Jahre Russisch studiert.« Dann dachte er wieder an seine derzeitige Situation. »Ich muss hier verschwinden und Sie aus der Sache heraushalten. Sie haben schon mehr für mich getan, als ich erwarten durfte.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich suche mir irgendwo ein leeres Abteil und versuche dann morgen früh, unbemerkt aus dem Zug zu
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