Die Romanow-Prophezeiung
Dose Desinfektionsmittel. Mit Hilfe des Sprays reinigte er das Seifenstück und wusch sich dann Hände und Gesicht – immer darauf bedacht, kein Wasser zu schlucken, weil es einem Schild in kyrillischer Schrift zufolge nicht trinkbar war. Mit seinem Taschentuch trocknete er sich dann das Gesicht ab. Papierhandtücher gab es nicht.
Er starrte sein Spiegelbild an.
Seine braunen Augen waren müde, die kantigen Gesichtszüge verzerrt, und sein Haar brauchte dringend einen neuen Schnitt. Was lief hier ab? Und wo war Zenow? Schöner Leibwächter. Er spritzte sich noch mehr Wasser ins Gesicht und spülte den Mund aus, wobei er weiter darauf achtete, nichts zu schlucken. Schon seltsam, dachte er. Eine Supermacht, die in der Lage ist, die Welt tausendmal in die Luft zu jagen, schafft es nicht, den Fahrgästen in ihren Zügen Trinkwasser zur Verfügung zu stellen.
Er versuchte, sich zu beruhigen. Durch ein ovales Fenster raste die Nacht an ihm vorbei. Ein entgegenkommender Zug rauschte vorüber. Minutenlang, so kam es ihm vor.
Lord holte tief Luft, griff nach seiner Aktentasche und öffnete die Tür.
Der Weg war blockiert von einem großen, kräftigen Mann mit pockennarbigem Gesicht, der sein glänzend schwarzes Haar hinten in einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Als Lord ihn anstarrte, fiel ihm sofort der große Zwischenraum zwischen dem rechten Auge und der Braue auf.
Hängelid!
Eine Faust landete in Lords Magengrube.
Er sackte zusammen. Die Luft blieb ihm weg, und Übelkeit überkam ihn. Die Wucht des Schlages schleuderte ihn gegen die Außenwand, und sein Kopf schlug so hart gegen das Fenster, dass ihm fast schwarz vor Augen wurde.
Lord sank auf den Toilettensitz.
Hängelid trat in die Toilette und schloss die Tür. »Jetzt, Mr. Lord, wir machen Finish.«
Er hatte noch immer die Aktentasche in der Hand. Ganz kurz spielte er mit dem Gedanken, sie hochzureißen, aber in diesem engen Raum fehlte ihm der Platz, um richtig Schwung zu holen. Seine Lungen füllten sich wieder mit Luft, und an die Stelle des Schocks trat nackte Angst. Pures Entsetzen.
In Hängelids Hand öffnete sich ein Schnappmesser.
Lord blieb nur noch ein kurzer Augenblick.
Das Desinfektionsmittel. Er griff sich die Dose und zielte damit seinem Angreifer voll ins Gesicht. Als ihm der brennende Sprühnebel in die Augen drang, schrie der Mann auf. Lord trat ihm mit dem rechten Knie in die Leistengegend. Hängelid krümmte sich vor Schmerz und ließ das Messer auf den gefliesten Boden fallen. Mit beiden Händen schlug Lord dem Mann seine Aktentasche auf den Schädel, und Hängelid kippte nach vorn.
Lord schlug noch einmal zu. Und noch einmal.
Dann sprang er über seinen Gegner, öffnete die Metalltür und stürzte in den Korridor. Dort wartete schon Cro-Magnon auf ihn – dieselbe fliehende Stirn, dasselbe buschige Haar und dieselbe Knollennase wie vor zwei Tagen.
»In Eile, Mr. Lord?«
Er trat dem Russen mit solcher Wucht gegen das linke Knie, dass der Mann zu Boden ging. Rechts von ihm kochte in einem silbernen Samowar gerade das Wasser. Daneben stand eine Glaskaraffe bereit für Fahrgäste, denen nicht nach Tee, sondern nach einem nächtlichen Kaffee zumute war. Er schüttete die siedende Flüssigkeit über Cro-Magnon aus.
Der Mann brüllte vor Schmerz.
Lord wirbelte herum und schoss auf den Ausgang neben der Toilette zu, hörte, wie Hängelid sich aufrappelte und Cro-Magnon etwas zurief.
Er rannte aus dem Schlafwagen in den nächsten Waggon und hastete so schnell es ging durch den engen Flur. Vielleicht tauchte ja ein Schaffner auf oder sonst jemand. Noch immer seine Aktentasche fest in der Hand haltend, betrat Lord gerade den nächsten Waggon, als er die Tür am hinteren Ende aufgehen hörte und seine beiden Verfolger sah.
Er rannte weiter, dann machte er sich klar, dass das sinnlos war. Früher oder später würden ihm die Waggons ausgehen.
Er warf einen Blick zurück. Weil der Zug gerade durch eine Kurve fuhr, konnten seine beiden Verfolger ihn nicht sehen. Vor ihm lagen weitere Schlafwagenabteile. Lord ging davon aus, dass er sich noch immer in der ersten Klasse befand. Er musste sich unbedingt in einem dieser Abteile verstecken, und sei es auch nur so lange, bis seine Verfolger vorbei waren. Vielleicht konnte er dann zurücklaufen und Zenow suchen.
Er versuchte es an der erstbesten Tür.
Verschlossen.
Die nächste auch.
Sie mussten jeden Augenblick kommen.
Er packte einen Türgriff und schaute sich um. Schatten näher
Weitere Kostenlose Bücher