Die Rose des Propheten 1 - Das Buch der Götter
die Grenze zum Sonnenamboß. Auf dieser Düne heben sich vier Gestalten vor der Leere des Himmels ab. Sie sitzen auf Pferden, und sogar aus dieser Entfernung kannst du ihre prachtvollen Tiere bewundern. Ihre Haiks – oder Kopftücher – sind schwarz, und ihre Gesichter verborgen hinter dunklen Schleiern. Du winkst ihnen zu, aber sie verharren bewegungslos und antworten nicht.
»Was wäre geschehen, wenn wir ihnen keinen Tribut geleistet hätten?« willst du wissen.
»Ach, Effendi, dann würdest nicht du das Blut der Wüste trinken, sondern die Wüste das deine.«
Noch einmal schaust du hinüber, nur um die Düne verlassen und bar allen Lebens vorzufinden. Die Nomaden sind verschwunden.
Vom Anblick der Spahis offenbar sehr beunruhigt, eilt dein Führer davon und ruft nach den Dienern. Du blickst nach Westen, um Ruhe für die schmerzenden Augen zu finden. Zu lange schon schautest du in das gleißende Licht der Sonne, das vom Sand zurückgeworfen wurde.
Dort ragt eine Kette zerklüfteter, roter Felsen aus der Wüste empor, als habe eine gigantische Hand hinabgegriffen und sie aus dem Boden gezerrt. Dort liegt das Land, das du vor zwei Tagen verlassen hast und an das du dich so gern erinnerst. Eiskalte Flüsse winden sich durch die Hügel, um sich schließlich im heißen Sand zu verlaufen. Auf den Berghängen wächst das Gras im Überfluß, wie auch Wacholderbüsche, riesige Kiefern, Zedern, Weiden sowie Büsche und Unterholz jeglicher Art. Zuerst empfandest du es als eine willkommene Erleichterung, die roten Berge nach Durchquerung der Wüste zu erreichen, die zwischen ihnen und dem eigentlichen Gebirge von Kich liegt. Doch bald fandest du heraus, daß die Hügel auf ihre Weise nicht weniger unheimlich und abweisend waren als die Wüste selbst.
Zerklüftete Klippen aus rötlichem Fels, deren ohnehin schon kräftige Farbe durch das Grün der Bäume hervorgehoben wird, recken sich in den bewölkten Himmel. Grauweiße Wolkentürme hängen über ihnen und ziehen lange Regenfahnen hinter sich her. Der Wind heult durch die Felszacken und Spalten. Eiskalte Sturzbäche rauschen in wildem Lauf über glatten Stein, als wüßten sie, daß die Wüste ihre Bestimmung ist, und versuchten vergeblich, ihrem Schicksal zu entrinnen. Gelegentlich kannst du an einem Berghang einen weißen Flecken erspähen, der in seltsam wogender Bewegung durch das grüne Gras zieht – eine Schafherde, die von den Nomaden jener Region auf neue Weiden getrieben wird; Nomaden, die mit denen, die du eben erst erblickt hast, entfernt verwandt sind.
Eilig kehrt dein Führer mit der Nachricht zurück, daß alles zum Aufbruch bereit sei. Du wirfst einen letzten Blick auf die Umgebung. Nicht zum ersten Mal bemerkst du die Fremdartigkeit dieser Landschaft: Unmittelbar hinter dir erhebt sich ein kleiner Hügel. Er scheint hier nichts verloren zu haben. Traurig steht er inmitten der Wüste – verlassen von den größeren Bergen, die sich lieber weiter im Westen niederließen. Als wolle er die Widersinnigkeit dieses Hügels noch nachdrücklich hervorheben, hat dir dein Führer berichtet, daß auf der Kuppe eine Pflanze wächst, die man sonst nirgends in der Wüste findet, ja, nicht einmal in der ganzen Welt.
Vor dem endgültigen Abschied gehst du noch einmal hinüber, um einen Blick auf die Pflanze zu werfen. Es handelt sich um eine häßliche, den Tod verheißende Kaktee. Gedrungen, mit dicken, spitz zulaufenden Blättern, bringt sie feine Stacheln hervor, die offenbar ihre Opfer anspringen – du könntest schwören, daß du der Pflanze nicht zu nahe gekommen bist, dennoch findest du deine Stiefelschäfte voller bösartig aussehender Dornen.
»Wie heißt dieser abscheuliche Kaktus?« fragst du, während du die Dornen herausziehst.
»Man nennt ihn ›Rose des Propheten‹, Effendi.«
»Welch schöner Name für ein derart scheußliches Gewächs!« wunderst du dich.
Doch dein Führer zuckt nur mit den Schultern. Er ist ein Stadtbewohner, der sich an diesem Ort unbehaglich fühlt und ungeduldig zum Aufbruch drängt. Du musterst noch einmal den seltsamen Hügel mitten in der Wüste und die noch seltsamere Pflanze, die auf ihm wächst – die häßliche Pflanze mit dem schönen, romantischen Namen.
Die Rose des Propheten.
Es muß sich eine Geschichte darum ranken, denkst du und schließt dich der wartenden Karawane an.
So ist es, mein Reisegefährte, und ich, der Meddah, werde sie dir erzählen.
Das Buch der Götter
Wie jeder weiß, ist das
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