Die Rose des Propheten 5 - Das Buch der Nomaden
vor langem abgekühlt. Das einzige, was sie empfand, wenn sie seinen Namen leise aussprach, während sie in die Schale verzauberten Wassers blickte, war Furcht.
Wisse dies, mein Kind. Wenn ich seinen Namen von der Zunge eines anderen vernehme, bevor ich ihn von deiner vernommen habe, werde ich dir die Zunge aus dem Mund reißen lassen.
So hatte Feisal gesprochen, der Imam.
Wie sie in das Wasser des Hauz starrte, vernahm Meryem einmal mehr diese Worte und erzitterte so heftig, daß ihre bebende Hand das Wasser in Wellen versetzte. Es war Aseur, nach Sonnenuntergang, kurz vor Abendeinbruch. Sie vernahm die Geräusche des Basars, der zur Nacht geschlossen wurde – Händler, die ihre Waren verstauten, bevor sie ihre Stände scheppernd schlossen. Badia und die anderen würden sie erwarten; das Wasser wurde für die Zubereitung des Abendessens gebraucht, eine Aufgabe, bei der sie mitzuhelfen hatte. Verbittert seufzend hob Meryem die glatte Ziegenhaut und begann damit, sie durch die übervölkerten, schmalen Straßen von Kich zu jenem Pferch zu tragen, wo die Nomaden von Gnaden des Emirs lebten.
Meryem blickte auf ihre Hände herab und fragte sich, ob der Eunuch vielleicht die Wahrheit gesagt haben mochte. Würde der Schmutz und der Dreck sich jemals abwaschen lassen? Würden die Flecken an Fingern und Händen jemals wieder verschwinden? Und wenn nicht – welcher Mann würde sie dann noch haben wollen?
»Heute nacht werde ich Khardan schauen!« flüsterte Meryem bei sich. »Ich werde diesen Ort verlassen und mit Feisals Belohnung in den Palast zurückkehren!«
Das Haus war dunkel und still. Die sechs Frauen und ihre zahlreichen kleinen Kinder, die sich in der winzigen Unterkunft scharten, schliefen in ihre Decken gehüllt. Auf dem Boden über einer Wasserschale, die sie zwischen den gekreuzten Beinen im Schoß hielt, saß Meryem mit dem Rücken zu den anderen und verbarg ihr Werk sorgfältig in den Falten ihres Gewands. Gelegentlich sprach das Mädchen mit murmelnder Stimme ein Gebet an Akhran, den Gott dieser armseligen Nomaden. Sollte eine der Frauen erwachen, würde sie Meryem in frommem Gebet sehen und hören.
In Wirklichkeit vollzog sie einen Zauber.
Das Wasser in der Schale war schwarz von den Schatten der Nacht. Falls der Mond scheinen sollte, könnte doch kein einziger Strahl seines Lichts hier eindringen, denn es gab keine Fenster in den Gebäuden, die sich übereinander türmten wie Spielzeuge, die von einem Kind im Wutanfall wild verstreut worden waren. Es gab nur eine einzige Tür, die in den gebrannten Lehm eingelassen war und die tagsüber offenstand, während man sie nachts mit einem gewobenen Tuch bedeckte. Doch Meryem brauchte kein Licht.
Mit geschlossenen Augen flüsterte sie geheime Worte, die sie gelegentlich mit dem Namen Khardans verwob. Als sie den Zauber dreimal gesprochen hatte, blickte Meryem in die Schale und hielt dabei die Luft an, um das Wasser nicht aufzuwühlen.
Die Vision kam ihr, wie jede Nacht, und Meryem begann schon in ihrem Herzen Verwünschungen auszustoßen, als sie plötzlich damit innehielt. Die Vision veränderte sich!
Da war die Kavir – eine Salzwüste, die im gleißenden Sonnenlicht glitzerte. Und da war auch jenes unglaublich blaue Gewässer, dessen sanfte Wogen gegen den weißen Ufersand spülten. Schon oft hatte sie dies geschaut und versucht, darüber hinauszusehen, denn sie wußte in ihrem Herzen, daß Khardan dort war, irgendwo. Doch jedesmal wenn sie schon glaubte, ihn gleich zu Gesicht zu bekommen, hatte sich eine dunkle Wolke über ihre Vision geschoben. Nun jedoch versperrte keine Wolke ihre Sicht. Ihr Herz raste, daß sie schon fürchtete, sein Klopfen würde die schlummernden Frauen aufwecken. Meryem erschaute ein Boot, das über das blaue Wasser segelte, um an dem Sandstrand zu landen. Sie erblickte einen Mann… den rothaarigen Verrückten, der da aus dem Boot stieg. Sie erschaute drei Dschinnen, ein kleines verhutzeltes Wiesel von einem Mann und einen weiteren, der eine merkwürdige Rüstung trug…
Ja! Khardan!
Meryem zitterte vor Erregung. Mit dem rothaarigen Verrückten half er jemandem vom Boden des Boots auf. Das war Zohra, Khardans Frau. Meryem betete zu Quar, daß es Zohras Leichnam sein mochte, den sie dort mit solcher Sanftheit behandelten. Ihre Hände zitterten vor eifriger Wonne, als sie sich lautlos erhob, das Wasser auf den Boden aus gestampftem Erdreich ergoß und verschleiert auf die leere Straße hinausschlüpfte. Meryem blickte um
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