Die Rose von Darjeeling - Roman
bösartiger Tumor festgestellt. Die Krankheit schritt sehr rasch voran. Im Mai des folgenden Jahres lag Carl im Sterben. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun, außer ihm schmerzlindernde Spritzen zu verabreichen. Gesine holte ihn aus dem Krankenhaus nach Hause aufs Altenteil. Er sollte hier im Kreise der Familie seine letzten Tage verbringen.
Carl sprach wirr. Meist verstand Gesine als Einzige, was er meinte. In der Zeitung stand in diesen Tagen, dass Gustav ter Fehn, weil er keinen Nachfolger hatte, sein traditionsreiches Familienunternehmen an eine große Unternehmensgruppe verkauft hatte. Die einzige Tochter sei Lehrerin und kinderlos. In einem Interview sagte der verwitwete Gustav, er plane, seinen Lebensabend am Zwischenahner Meer zu verbringen. Gesine las es Carl vor, obwohl sie bezweifelte, dass er die Bedeutung erfasste.
Zwischendurch hatte Carl immer wieder halbwegs klare Momente. Gerd, der jetzt die Baumschule führte, saß an seinem Bett, als er mit schwerer Zunge fragte: »Was für einen Tag haben wir? Was für einen Monat?«
»Es ist Dienstag. Und Mai.«
»Blüht die Queen schon?« Carl sank zurück in seinen Dämmerzustand, bevor er eine Antwort erhalten hatte.
Gerd verstand nicht, was er gemeint hatte, Gesine schon. »Ich bin in spätestens zwei Stunden zurück«, sagte sie zu ihrer Schwiegertochter Brigitte.
Sie verließ das Haus und fuhr mit ihrem VW Variant nach Leer. Wie lange war sie nicht mehr in der Straße mit dem ter-Fehn-Stammhaus gewesen? Um das Jahr 1950 herum hatten sie ein paar Mal Gustav und Ivy besucht. Gesine fand die Stadt stark verändert vor. Das ter-Fehn-Haus jedoch hatte sich zumindest äußerlich kaum verändert, vermutlich stand es auch längst unter Denkmalschutz. Ein großer Umzugswagen versperrte den Haupteingang. Gesine parkte einige Häuser weiter. Es war Nachmittag und hell, aber das kümmerte sie jetzt wenig. Sie ging seitlich am Gebäude vorbei in den rückwärtigen Garten, steuerte direkt auf einen scharlachrot blühenden Rhododendron zu – die Rose von Darjeeling. Ganz schön gewachsen! Bestimmt zweieinhalb Meter, schätzte Gesine. Mit einem Gärtnermesser schnitt sie mehrere Äste ab, bis sie einen großen Strauß in den Armen hielt.
»Tach, Gesine.«
Sie fuhr herum und erschrak. Gustav stand vor ihr wie ein Gespenst, in bestem Zwirn wie stets – aber er hatte kaum noch Haare, schien geschrumpft zu sein. Er wirkte verbittert. Durch die Büsche hindurch sah sie das Haus, Möbelpacker trugen Sachen hinaus. Ausgerechnet!, dachte Gesine.
Gustav blickte sie nicht böse an. Eher überrascht und unendlich traurig. Gesine wusste wohl, dass Ivy nach vielen Jahren im Pflegeheim gestorben war. Dass Gustav durch seine griesgrämige Art seine Tochter Hella vergrault hatte, wusste sie nicht. Doch sie spürte die große Einsamkeit dieses Mannes, der einst so lebenslustig und stark gewesen war.
»Ach, Gustav!«, entfuhr es ihr da. Sie umarmte ihn mit dem Riesenstrauß in der Hand. Schweigend starrte er sie an. Gesine schlug die Augen nieder. »Er stirbt«, sagte sie nur.
Aus dem Haus rief einer der Möbelpacker: »Soll dat groode Katzenfell vonner Diele auch mit?«
»Ich zieh aus«, erwiderte Gustav mit hängenden Schultern.
Gesine wischte ihm eine Träne von der Wange und ging.
»Lasst mich mit eurem Vater allein«, sagte Gesine den Kindern, die alle samt Anhang nach Hause gekommen waren, um Abschied zu nehmen.
Sie stellte eine große Vase mit dem Rhododendronstrauß neben sein Bett. So, dass Carl ihn sehen konnte. Rasch erfüllte der Blütenduft die Luft.
Carl dämmerte dahin. Plötzlich begann er zu schnuppern – und öffnete die Augen. Er blickte auf den Strauß. Gesine konnte nicht abschätzen, wie viel er wirklich erkannte, doch Carl begann zu lächeln. Es war ein sehr glückliches Lächeln. Er sagte etwas, das selbst Gesine nicht verstand. Ihr kamen die Tränen. Sie knipste eine Blüte heraus und hielt sie ihm unter die Nase.
»Es war falsch, Carl«, sagte Gesine. Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett, damit sie seine Hand halten konnte. »Ich hätte damals nicht von dir verlangen sollen, dass du die Rose von Darjeeling kaputt machst … Aber es tat so weh … sie zu sehen und mir vorzustellen, dass du jedes Mal an sie denken würdest …« Gesine zog ein Papiertaschentuch aus ihrem Ärmel und schnäuzte sich. Hörte er, was sie sagte?
Er lächelte immer noch.
»Niemand kann einem die Erinnerung nehmen … Ik hev di leef, Carl … Auch
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