Die Rose von Darjeeling - Roman
Rhododendronpark wurde eine Sehenswürdigkeit, die bald in keinem Reiseführer über die Region fehlte. Auszeichnungen und Preise machten Carl als Züchter zu einer internationalen Größe. Zufriedenheit erfüllte ihn, wenn er unterwegs seine Hybriden erkannte, ob nun im Ammerland auf einem Bauernhof oder in Hamburg an der Elbchaussee.
Das Größte für ihn war es, zu beobachten, wie Besucher verzaubert von der Schönheit seiner Rhododendren durch den Park wandelten. Manchmal mischte er sich unauffällig unter sie, um ihre Reaktionen und Kommentare hautnah mitzubekommen.
Die Sehnsucht nach Kathryn verließ ihn nie. Die ersten zwei Jahre nach ihrer Trennung waren eine fast unerträgliche Qual für ihn, doch er schaffte es, sie tief in seinem Innern zu verbergen. Manches Mal dachte er daran, heimlich in Gustavs Garten in Leer das letzte verbliebene Exemplar der Rose von Darjeeling auszugraben oder zumindest einen Reiser davon abzuschneiden. Oder hinzufahren, um sie wenigstens einmal wieder blühen zu sehen und zu riechen. Aber er widerstand der Versuchung – einerseits, weil ihm klar war, dass der Duft seinen Schmerz nur verstärken und nicht lindern würde, andererseits und vor allem jedoch, weil er auf keinen Fall wollte, dass Gustav ihn dabei zufällig erwischte. Diesen Triumph gönnte er dem Verräter nicht.
So entwickelte Carl eine gewisse Fertigkeit, die mancher vielleicht als Meditation bezeichnet hätte. Er hatte keinen Namen dafür. Am besten funktionierte es, wenn er allein auf dem Sofa lag, um seinen Mittagsschlaf zu halten. Er ruhte auf dem Rücken, die Augen geschlossen, beide Hände übereinander auf der Brust. Er versuchte ruhiger zu atmen. Zuerst betete er zu Gott. Meist höflich, kurz und dankbar. Dabei trappelte er innerlich schon vor Ungeduld wie ein kleiner Junge. Und dann endlich dachte er an Kathryn, oder richtiger, er fühlte Kathryn. Er ließ seine Liebe zu ihr frei, aus vollem Herzen. Dabei stieg eine Art Energiewolke auf, wie Kathryn es ihm beschrieben hatte. Dieses Kraftfeld schloss ihn ein, schwebte über ihm und reichte bis ins Weltall. Kathryn, hörst du mich? ICH LIEBE DICH , wo immer du bist! Ich schicke dir meine Liebe.
Was er in diesen Momenten spürte, war sehr intensiv. Mächtiger als die Zuneigung, die er allein zu geben vermochte. Er empfand ein Abstrahlen oder Senden und zugleich ein Empfangen. Für Carl stand fest, dass sich seine Liebe mit Kathryns Liebe verband. Und dass dieses Gefühl Teil einer noch viel größeren göttlichen Liebe war. Diese Erfahrung tröstete und stärkte ihn.
Auch für Kathryn waren die ersten Jahre nach ihrem Abschied von Carl die schwersten. Jeder Vogel schien eine Botschaft von ihm zu bringen, jede Windbö ein Zeichen zu sein, jeder Wellenschlag weckte Erinnerungen. Immer noch schwang etwas von Herz zu Herz, auf eine archaische Weise, die vor ihnen schon Millionen Liebende zu allen Zeiten und in allen Ländern der Erde über jede Entfernung verbunden hatte.
Auch ihr Körper litt in der ersten Zeit unter Entzugserscheinungen. Kathryn verzehrte sich nach Carl. Vom gesichtslosen Lustspender träumte sie nicht mehr. Zu viele erotische Bilder von Carl hatten sich in ihrer Erinnerung darübergelegt.
Mit der Zeit gelang es ihr, die Liebe zu ihm verstärkt in allgemeine Menschenliebe umzulenken. Kathryn bewahrte ihr Geheimnis, was ihr zuweilen etwas Rätselhaftes verlieh. Sie fand wieder Trost, indem sie sich wohltätig engagierte, und vermehrt auch im Genießen. Immer noch hatte sie ein großes Haus zu führen. Ihre Gäste wurden verschiedenartiger und internationaler.
Lord Taintsworth und Charles, der sich schon während des Studiums sehr für das Kreditinstitut der Familie interessierte, hatten im Hintergrund erfolgreich Lobbyarbeit betrieben. 1953 beschloss die Regierung von Jersey, die Insel durch besondere Gesetze zu einem Steuerparadies zu machen. Jetzt zeigten internationale Großunternehmen, sogar Staaten, allerdings auch Diktaturen und unseriöse Briefkastenfirmen schlagartig riesiges Interesse an einer Zusammenarbeit. Die Taintsworths konnten sich die Rosinen herauspicken. Während die Aristokratie in Großbritannien bittere Zeiten des Niedergangs erlebte und so manche hochwohlgeborene Familie statt zwölf nur noch zwei Gärtner beschäftigen konnte, verdienten Kathryns Männer sehr gut. Annabella kam nach Hause, und Kathryn bemühte sich, in der Beziehung zu ihrer Tochter manches Versäumte nachzuholen. Sie drückte ein Auge mehr zu, wenn
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