Die Rose von Darjeeling - Roman
Ereignisse im Leben zu überstehen. Und doch schmerzte es auch. Immer noch, nach so vielen Jahren. Gerade jetzt wieder spürte sie den vertrauten Stich in der Brust, dem ein sehnsüchtiges süßes Ziehen folgte. Ihre Kehle schnürte sich zu, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie atmete tief durch und schloss die Lider. Manchmal spürte sie die Liebe wieder: so jung und unverbraucht, so intensiv, innig, tief und weit und allumspannend wie damals. Eine Träne lief ihre Wange hinunter.
Am stärksten überkam sie dieses Gefühl, wenn sie im Mai ihrem Rhododendron nahe war. Es gab viele Rhododendren in ihrem Park, die meisten wuchsen in Gruppen angeordnet, doch sie meinte immer nur den einen: die »Rose von Darjeeling«. Das Herz ging ihr auf, wenn der inzwischen fast vier Meter breite und drei Meter hohe Prachtbusch seine Knospen austrieb und seine großen scharlachfarbenen Blüten öffnete. Wie aus hauchdünnem Wachs modelliert wirkten sie und schienen, besonders in der Morgensonne, von innen heraus zu leuchten. Dieser Rhododendron hatte eine eigene Aura, Kathryn ließ sich insgeheim von ihr umfangen wie von den Armen eines Geliebten.
Das Außergewöhnlichste aber an der besonderen Züchtung war ihr Duft. Nur wenige Rhododendren verströmten Wohlgerüche, sah man einmal ab von einigen zur Gruppe der Azaleen gehörenden Arten wie dem nasenbetäubend honigsüß riechenden gelben Rhododendron luteum, an dessen Honig sich einst die Soldaten des Xenophon um 400 vor Christus auf dem Rückmarsch von Babylon vergiftet hatten. Ihr Rhodo duftete anders. Nicht aufdringlich. Auch nicht nach Zimt, Jasmin oder Orchidee wie einige der Vireya-Arten, die nur in tropisch-schwülen Regionen Südostasiens oder in den Gewächshäusern von Kew Gardens gedeihen konnten. Den zarten, geheimnisvoll lockenden Duft der Rose von Darjeeling begleitete eine schwer beschreibbare Note, die einmalig war. Deshalb verließ Kathryn während der Blütezeit von Anfang bis Ende Mai nur zu einem alljährlichen Pflichttermin in London für drei Tage ihr Anwesen. Sie hielt sich am liebsten draußen bei ihrem Rhododendron auf. Meist saß sie auf dem Rasen direkt daneben in einem Gartensessel, der zu einer dunkelgrün gepolsterten, silbrig verwitterten Teakholzsitzgruppe gehörte, und las.
Eine gepflegte Grünfläche schwang sich von der Sonnenterrasse des Herrenhauses sanft abwärts bis zu ihrem Lieblingssitzplatz. Sie hatte den Strauch knapp vierzig Jahre zuvor in den lichtdurchbrochenen Schatten alter Eichen und Magnolien gepflanzt. Hier nahm sie, sobald die Witterung es zuließ, mit ihrer Schwiegertochter Alexandra den Nachmittagstee ein. Hier empfing sie die Damen der Hausfrauenvereinigung, um mit ihnen Wohltätigkeitsbasare zu besprechen, oder das Komitee zur Organisation des Blumenfestes. Sofern das Rheuma es ihr erlaubte, buddelte sie auch gern in benachbarten Beeten zwischen Funkien, Bluebells, Primeln und Bambus. Nur um immer, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, für Momente die Augen zu schließen und diesen Duft in sich aufzunehmen, der in ihr alles wieder lebendig machte.
Jeder wusste, dass die Herrin von Greenville Manor diesen Rhododendron besonders liebte. Und normalerweise war sie auch die Großzügigkeit in Person, wenn sie um Ableger aus ihrem viel bewunderten Park gebeten wurde. Zum Beispiel von den zahlreichen pensionierten Offizieren, die im milden Klima der vom Golfstrom verwöhnten Kanalinsel ihren Ruhestand mit der Gärtnerei verbrachten – und von denen mancher wohl auf einen engeren Kontakt zur verwitweten Lady hoffte. Doch sie konnte recht schmallippig werden, sobald sie auf Samen oder gar Reiser ihres Rhodos angesprochen wurde. Später, pflegte sie dann zu sagen, später einmal. Doch »später« kam nie.
Spezialisten fachsimpelten gern, um welche Sorte es sich wohl handeln möge, nur Kathryn blieb stets wortkarg, wenn es um die Herkunft ihres Rhododendrons ging. Man vermutete ganz allgemein, dass ihre Ladyschaft schöne Erinnerungen an Kindheit und Jugend auf der Teeplantage ihres Vaters in Darjeeling mit dem immergrünen Strauch verband. Damit mussten sich die Leute eben begnügen.
»Wer verkaufte den Männern von diesem griechischen Feldherrn denn den giftigen Honig?«, hatte ihr Enkel Maximilian sie einmal gefragt, als sie ihm beim gelben Rhododendron von den armen Soldaten erzählte.
»Niemand. Sie haben ihn in der Natur entdeckt, im fernen Kaukasus, in den Nestern wilder Bienen.«
»Und sind sie daran
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