Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
irgendeiner Bucht vor Anker gehen und dort den Tag mit Schwimmen, Tauchen, Sonnenbaden verbringen, um dann am Abend müde und hungrig die Kneipen und Restaurants der Inselhauptstadt zu stürmen und sich bis in die tiefen Nachtstunden hinein zu vergnügen. Wie fröhlich sie alle sind, dachte Alan.
Ein Mädchen fiel ihm auf, das unten an die steinerne Hafenmauer gelehnt saß; sie trug abgeschnittene Jeans, die über ihren braungebrannten Knien fransten, und ein Bikinioberteil, dessen Träger sie über die Schultern hinuntergestreift hatte. Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und hielt die Augen geschlossen. Neben ihr stand eine Wasserflasche.
Alles Dinge, die Helene nun nicht mehr tun kann, dachte Alan
und wußte gleichzeitig, daß dieser Gedanke absurd war, denn Helene hatte Dinge dieser Art sowieso nie getan. Weder war sie gesegelt noch in Motorbooten dahingebraust, und sie hätte auch nie wie hingegossen an einer Hafenmauer gelehnt und über das Wasser geträumt. Helene hätte das Maß an Entspannungsfähigkeit, das zu solcherlei Lebensgenuß gehörte, überhaupt nicht aufgebracht. Wenn sich Helene überhaupt einmal im Hafen in die Sonne gesetzt hätte — und er hatte keine Ahnung, ob das je der Fall gewesen war —, dann gewiß nicht in Shorts und BH, und schon gar nicht mit geschlossenen Augen. Helene hatte ihre Umgebung stets gemustert, analysiert, bewacht. Sie hatte Gefahren an allen Ecken und Enden gewittert. Selten einmal hatte Alan sie erlebt, ohne daß sie quengelte, jammerte, ihr Schicksal beklagte oder sich in düsteren Prophezeiungen ihrer aller Zukunft betreffend erging. Eine gewisse Fröhlichkeit hatte sie eigentlich nur in Kevins Gegenwart an den Tag gelegt. Kevin hatte es verstanden, eine Seite in ihrem Wesen anzurühren, an die sonst niemand reichte. Das sorglose Mädchen, das sie vielleicht einmal gewesen sein mochte, war dann erwacht. Es war wie ein kurzer Blick in einen unbekannten Teil ihrer Persönlichkeit gewesen. Alan hatte sich davon immer seltsam tief berührt gefühlt.
Er trank gerade seinen zweiten Wein und fragte sich, weshalb er erneut medium geordert hatte — der Wein war pappig süß und schmeckte wie alkoholisiertes Zuckerwasser. Immerhin hatte er es an diesem Tag geschafft, mit dem Trinken bis zum Mittag zu warten. Den ganzen Morgen über war er trocken geblieben, was allerdings auch an Beatrices Argusaugen lag, mit denen sie ihn überwachte. Im Haus seiner Mutter auch nur einen Schluck Alkohol zu sich zu nehmen, erschien ihm inzwischen schier als ein Ding der Unmöglichkeit. Ständig war sie hinter ihm, neben ihm, tauchte aus den überraschendsten Winkeln urplötzlich auf und vereitelte sein Vorhaben, sich still und leise wenigstens einen Sherry oder einen Schluck Portwein zu genehmigen. Darum hatte er sich schließlich ihren Wagen geschnappt — was sie hoffentlich daran hinderte, ihm zu folgen — und war nach St. Peter Port gebraust. Der erste Schluck Wein hatte ihm bereits ein Gefühl der Erleichterung verschafft. Der erste Schluck eines Tages war stets der schönste.
Helene ruhte seit zwei Tagen unter der Erde, und er hätte längst wieder in London sein sollen. Es wartete eine Menge Arbeit auf ihn, zumal er sich ja in der Woche zuvor bereits einige Ausfälle geleistet hatte. Seine Sekretärin war verzweifelt gewesen, als er ihr erklärt hatte, er werde erst am Montag der darauffolgenden Woche wieder im Büro sein.
»Ich weiß nicht, wie ich ...«, hatte sie mit Panik in der Stimme angesetzt, aber er hatte sie sogleich unterbrochen. »Sie wissen doch, die Lebensgefährtin meiner Mutter ist auf eine sehr schreckliche Weise ermordet worden. Ich kann meine Mutter jetzt nicht von heute auf morgen allein lassen.«
Dagegen hatte sie natürlich nichts einwenden können, und woher hätte sie wissen sollen, daß er eine faustdicke Lüge auftischte? Beatrice mußte nicht getröstet werden. Zwar lief sie mit einer Miene herum, die wie versteinert wirkte; zwar vermittelte sie den Eindruck, jedesmal aus einer fernen Welt aufzutauchen, wenn man sie ansprach; aber trotz allem schien sie nicht wirklich hilfebedürftig. Vielleicht hatte Helenes grausamer Tod sie tiefer geschockt, als sie zum Ausdruck zu bringen vermochte, aber in jedem Fall würde sie dies mit sich allein abmachen. Sie hatte immer alles mit sich allein abgemacht. Er fragte sich manchmal, ob Beatrice überhaupt wußte, wie das ging: Hilfe und Beistand von anderen Menschen anzunehmen.
Es gab also für ihn in
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