Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
Rasierwasser, aber ein besseres, als ihr Vater immer benutzte. Der Fremde setzte sie auf das geblümte Sofa, dann verschwand er für einen Moment, und als er wiederkam, brachte er ein Glas Wasser mit.
»Trink das«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, wie lange du schon da unten sitzt, aber du scheinst mir ziemlich entkräftet. Gibt es hier etwas zu essen im Haus?«
Sie trank das Wasser in kleinen Schlucken. Essen würde unmöglich sein, das spürte sie.
»Ich... habe keinen Hunger«, murmelte sie.
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. »Wie alt bist du denn?« fragte er.
»Elf.«
»Soso. Und wo sind deine Eltern?«
»Fort.«
»Fort? Wohin sind sie gegangen?«
Sie hatte das Glas leer getrunken. Ein paar schwache, erste Lebensgeister kehrten zurück; ihre Beine fühlten sich nicht mehr ganz so puddingweich an, und sie vermutete, daß sie demnächst wieder auf ihnen würde stehen können.
»Mit dem Schiff«, sagte sie, »mit dem Schiff sind sie weg.«
»Evakuiert. Ja, sie haben mehr als 20 000 Menschen von den Inseln evakuiert«, sagte der Mann. Verwundert fügte er hinzu: »Und dich haben deine Eltern zurückgelassen?«
Beatrice hatte die ganze Zeit über nicht geweint. Sie war wie erstarrt gewesen, hatte keine Regung in sich gefühlt. Aber nun auf einmal schnürte irgend etwas ihr den Hals zu, es schien ihr, als lauere ein Strom von Tränen darauf, aus ihr herauszubrechen.
Natürlich hatten Deborah und Andrew, ihre Eltern, sie nicht zurückgelassen. Nie wäre ihnen so etwas eingefallen. Es war ein Unglück gewesen.
»Sie sind auf ein Schiff gekommen«, sagte sie, »ich nicht.«
Der Mann nickte, verständnisvoll und bekümmert. »Ihr seid in der Menge auseinandergerissen worden«, vermutete er.
Sie nickte. Nie würde sie die unüberschaubare Menge an Schiffen vergessen, nie den Hafen von St. Peter Port, der schwarz gewesen war von Menschen. Beatrice hatte gar nicht genau begriffen,
weshalb sie an diesem klaren, warmen Junitag ihren schönen Garten verlassen und ein überfülltes Schiff besteigen sollte. Deborah hatte versucht, es ihr zu erklären. »Es kann sein, daß die Deutschen unsere Inseln zu besetzen versuchen. Es heißt, sie könnten schon bald hier sein. Wer nur irgend kann, soll die Inseln verlassen. Wir werden nach England gebracht.«
Beatrice hatte sich immer gewünscht, England kennenzulernen, vor allem London, denn von dieser Stadt hatte Deborah, die dort aufgewachsen war, stets geschwärmt. Aber aus irgendeinem Grund vermochte sie sich über diese unerwartete Reise nicht zu freuen. Alles war so schnell gegangen, und schon vorher hatte eine eigenartige Stimmung in der Luft gelegen. Von morgens bis abends hatte jeder Radio gehört, alle hatten ernste, besorgte Gesichter gemacht, wo immer sie zusammenkamen, blieben die Menschen stehen und redeten, redeten, redeten ...
Beatrice bekam mit, daß Frankreich von den Deutschen überrollt wurde, und das machte ihr angst, denn offenbar machte es den Erwachsenen auch angst. Die bretonische Küste war nah - allzu nah. Die Deutschen mußten gefährlich sein, soviel wurde ihr klar. Der Name Hitler geisterte wie ein böses Gespenst herum, und Beatrice fing an, sich darunter eine Art Dämon vorzustellen, eine unheilvolle Macht.
Dann hieß es, Paris sei gefallen, die französische Regierung habe kapituliert. Immer öfter schnappte Beatrice das Wort Evakuierung auf.
»Was ist Evakuierung?« fragte sie ihre Mutter.
»Es bedeutet, daß wir fortgebracht werden von hier«, erklärte Deborah, »nach England, wo wir in Sicherheit sind. Wir werden nicht mehr da sein, wenn die Deutschen kommen.«
»Was wird aus Dads Rosen?«
Deborah zuckte mit den Schultern. »Wir müssen sie zurücklassen. «
»Aber... unser Haus! Unsere Möbel! Unser Geschirr! Meine Spielsachen! «
»Wir können nur wenige Dinge mitnehmen. Aber vielleicht wird unseren Sachen gar nichts passieren während unserer Abwesenheit. «
Leise hatte Beatrice gefragt: »Werden wir zurückkommen?«
Ihre Mutter hatte Tränen in den Augen gehabt. »Natürlich kommen wir zurück. Die englischen Soldaten werden die Deutschen verjagen, und dann gehen wir in unser Haus und leben genauso wie vorher. Sieh es als eine Ferienreise, ja? Als eine schöne, lange Ferienreise. «
»Wo werden wir wohnen?«
»Bei Tante Natalie in London. Es wird dir dort gefallen.«
Tante Natalie war Deborahs Schwester, und Beatrice mochte sie nicht. Aber niemand schien daran interessiert, welche Meinung sie zu den
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