Die rote Agenda
Scotland Yard hat mir berichtet, dass in Lowelly Greys Haus
das Unterste zuoberst gekehrt worden ist. Außerdem waren sie mindestens zu
zweit, bei der Tötungsmethode. Wie ich Ihnen am Telefon schon gesagt habe: Es
ist eine persönliche Angelegenheit. Ich kannte Richard nicht, doch sein Vater
hat viel für mich getan, und ich will den Tod seines Sohnes aufklären. Jetzt gebe
ich Ihnen die Informationen, die Sie brauchen, um mit den Nachforschungen zu
beginnen.«
[43] 7
Nachdem
Paolo Astoni sich von Verena verabschiedet hatte, machte er sich auf den
Heimweg, überquerte die Piazza Castello und ging unter den Arkaden in Richtung Via
Alfieri, wo er wohnte.
Als er das
Haus betrat, kam die Portiersfrau aus ihrer Loge und übergab ihm einen
Umschlag.
»Professore,
das ist vor kurzem angekommen, per DHL .«
Astoni nahm
den Umschlag, bedankte sich und stieg in den alten schmiedeeisernen Aufzug.
Nachdem er die Taste für den dritten Stock gedrückt hatte, besah er sich den
Umschlag – und das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn er erkannte Richards
Handschrift und sah seinen Absender.
Auf seinem
Stockwerk angekommen, steckte er mit zitternden Händen den Schlüssel ins
Schloss, trat ein, legte den Mantel über einen Stuhl und eilte ins
Arbeitszimmer. Dort riss er den Umschlag auf und zog eine Agenda aus rotem
Leder und eine Karte heraus.
Lieber Paolo,
wenige Zeilen in Eile, denn ich bin dabei,
diesen Umschlag mit einer Agenda und einer DVD meinem Freund Peter zu
übergeben, der ihn Dir morgen schicken wird. Ich habe die Agenda zwischen den
Papieren des Doyle- [44] Archivs bei Sommer’s gefunden. Genaueres werde ich Dir
mündlich erzählen, jedenfalls glaube ich, dass irgendjemand sie erst vor einigen Tagen dort versteckt hat. Ich habe versucht,
Dich anzurufen, Dich aber nicht erreicht. Jetzt ist es schon spät, und ich will
Dich nicht stören, doch morgen versuche ich es wieder. Ich bin sicher, Du wirst
den besten Gebrauch von dieser Agenda machen, da es darin ja um die Geschichte
Deines Landes geht.
Herzlich, Richard
Die Agenda aus dem Jahre 1992 war voller Notizen, Namen und
Daten, doch ab Mitte Juli waren die Seiten leer. Astoni hatte noch nicht
angefangen zu lesen, als eine runde Plastikhülle aus dem Einband rutschte und
zu Boden fiel. Er beugte sich hinunter, um sie aufzuheben: Sie enthielt die DVD ,
die Richard erwähnt hatte. Er legte sie auf den Schreibtisch und studierte
weiter aufmerksam die Agenda. Als ihm klarwurde, worum es sich handelte, meinte
er, das Herz müsse ihm zerspringen, und sein Blick trübte sich für einen
Augenblick. Das konnte nicht sein, sagte er sich aufgewühlt. Diese »rote
Agenda« war gleich nach dem Attentat, bei dem man den sizilianischen
Untersuchungsrichter getötet hatte, verschwunden und jahrelang vergebens
gesucht worden. Und nun tauchte sie in einem Auktionshaus in London zwischen
den Papieren Arthur Conan Doyles auf, und Richard, der sie gefunden hatte, war
ermordet worden. Der ewige italienische Alptraum kehrte zurück.
Er stand
auf, um sich etwas zu trinken einzugießen, während sich die Gedanken in seinem
Kopf überschlugen. Die Agenda war ein Todesurteil für jeden, der sie las, er
musste [45] sie so schnell wie möglich loswerden, vielleicht indem er sie an eine
Zeitung schickte, der er vertraute. Aber an welche? Auf jeden Fall würde er
eine Fotokopie machen und sie bei einem Notar hinterlegen, als eine Art
Versicherung. Oder würde nicht einmal das genügen? Die Agenda war zu brisant; unmöglich,
jemandem zu vertrauen.
Astoni
gelang es nicht, das Durcheinander von Gedanken zu ordnen, er war zu aufgeregt.
Richard musste durch eine Verkettung von Zufällen gestorben sein: Irgendjemand
hatte unerklärlicherweise die Agenda bei Sommer’s versteckt, und die Mörder
waren wegen Richards Anwesenheit im Auktionshaus auf ihn gekommen.
Astoni fuhr
sich mit den Händen durchs Haar, starrte eine Weile zu Boden. Dann nahm er die
Agenda und begann sie erneut durchzublättern.
Nach kurzer
Zeit hob er den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus, der fast wie eine
Klage war. Die Bilder des Attentats in jener Straße von Palermo standen ihm
wieder vor Augen, die zertrümmerten Autos, die erschütterten Menschen, die
ohrenbetäubenden Sirenen. Das war Jahre her. Innerhalb zweier Monate waren zwei
Richter und ihre Eskorten getötet worden; sie waren die letzten Opfer einer
langen Serie von Mafiamorden, die über Jahrzehnte das Land mit Blut getränkt
und seiner besten
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