Die rote Antilope
festgemacht. In einem davon lag eine alte Frau zusammengerollt und schlief. Daniel bewegte sich vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Er prüfte das Wasser mit der Hand. Es war kalt. Er bemühte sich, die Hand leicht zu machen, die Finger zu Federn, damit sie nicht durch das Wasser sänken. Dann probierte er es mit dem Fuß. Das Wasser ist wie ein Tier, dachte er. Ich muß sein Fell streicheln können, ohne daß es zusammenzuckt. Erst dann wird es mir erlauben, auf ihm zu gehen, ohne daß alles zerbricht und ich versinke. Noch immer beherrschte er die Kunst nicht. Immerzu zuckte es im Fell des Tieres. Seine Hand war wie eine Mücke, die das Tier stach. Er sah ein, daß es zu lange dauern würde, bis das Meer sich an seine Hände und danach an seine Füße gewöhnt hätte.
Die Frau in dem Ruderboot bewegte sich. Daniel hielt den Atem an. Sie murmelte etwas und schlief wieder ein. Das Wasser war jetzt sehr kalt und zuckte immer noch. Daniel flüsterte mit ihm, so wie Be ihm beigebracht hatte, mit unruhigen Hunden zu flüstern, die Raubtiere wittern. Einen kurzen Moment kam es ihm so vor, als ob das Tier auf ihn hörte. Seine Hand trieb auf dem Wasser. Es trug. Aber dann zuckte es wieder in dem Fell. Trotzdem war er zufrieden. Er würde es lernen können, es würde Zeit brauchen, aber er würde Nacht für Nacht ans Wasser gehen, er würde das nasse Fell zähmen, und eines Tages würde es ihm gelingen.
Er stand auf, um in die Dachkammer zurückzukehren, in der Vater lag und schlief. Die Frau in dem Ruderboot schnarchte. Daniel musterte die Vertäuung. Es war ein alter Strick, borstig und aufgerauht, der nachlässig um einen Steinpoller geschlungen war. Er überlegte, was wohl passieren würde, wenn er den Strick losmachte. Sofort war Be da und ermahnte ihn. Oft tat er Dinge, die nicht erlaubt waren. Spannte Seile, die Menschen stolpern ließen, streute starke Gewürze ins Essen, jagte Leuten einen Schrecken ein, indem er sich die weißen Knochen des Todes ins Gesicht malte. Aber Be war ihm nie lange böse. Zuerst hatte sie ihn am Arm gepackt, ihn vielleicht auf die Wange geschlagen, aber dann hatte sie immer lachen müssen. Sie wird auch jetzt lachen, dachte er. Vorsichtig machte er den Strick los. Das Boot glitt langsam vom Kai weg. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Da niemand in der Nähe war, ließ er ihm freien Lauf. Er lachte mitten in die Nacht hinein, wie er es nicht mehr getan hatte, seit diese Männer Be und Kiko getötet hatten. Er schleuderte sein Lachen in die Dunkelheit hinaus und wußte, daß sie ihn hören würden.
Dann nahm er denselben Weg zurück, den er gekommen war. Als er an der zischenden Lampe vorbeikam, wo das Mädchen gestanden hatte, das einem Vogel glich, war es verschwunden. Etwas bewog ihn, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Da hörte er sie, sie keuchte irgendwo in der Nähe, tief drinnen in der Dunkelheit, hinter ein paar Tonnen. Es klang, als fiele ihr das Atmen schwer. Vorsichtig drang er weiter in das Dunkel vor. Da sah er sie, in dem schwachen Lichtschein aus einem Fenster. Sie stand an die Wand gelehnt, den Rock hochgestreift, und ein Mann lehnte sich schwer gegen sie. Er war es, der stöhnte. Daniel dachte zuerst, der Mann wäre drauf und dran, sie zu schlachten, und sie wäre eigentlich ein Vogel. Dann erkannte er, daß sie das gleiche taten, was Be und Kiko auch zu tun pflegten. Die aber keuchten nicht dabei, sie lachten, schwatzten, und dann waren sie still.
In diesem Moment drehte die Frau ihm das Gesicht zu. Ihre Augen waren offen. Dann schrie sie auf. Der Mann wollte sie nicht loslassen, aber sie fuhr ihm mit den Nägeln durchs Gesicht, deutete auf Daniel und schrie noch einmal.
Daniel rannte in der Dunkelheit davon, verfolgt von ihrem Schrei. Irgendwo fing eine Glocke an zu bimmeln. Er hatte die Straße wieder überquert und rannte so schnell an der Bergwand entlang, daß er beinah die Tür verpaßt hätte, die zu der Treppe und dem Zimmer führte, in dem Vater schlief. Er wußte, daß sie ihn jetzt jagten, sie alle, die ihn angafften, wenn er in den hellen Stunden an Vaters Seite ging.
Als er in das Zimmer trat, lag Vater in derselben Stellung, in der er ihn verlassen hatte. Aber irgendwann mußte er aufgewacht sein, denn er hatte sich auf den Fußboden erbrochen. Daniel horchte an der Tür. Niemand kam die Treppe hoch, keine Jäger, keine Hunde. Er wischte sich die Füße mit einem Lappen ab und machte neben dem Bett sauber, wo Vater hingespien hatte.
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