Die rote Antilope
ginge. Das würde seine Pläne durchkreuzen. Das Wasser würde ihm verboten werden. Zugleich wußte er, daß er die Frau treffen mußte, die hinter dem Holzstoß gewartet hatte. Sie war seinetwegen gekommen, dessen war er sich sicher. Vielleicht würde sie mit Vater über seine Reisen sprechen, weiter seinen Lügen lauschen. Aber sie hatte verstanden, daß es nie einen Löwen gegeben hatte. Sie war gekommen, um seine Erzählung zu hören, und vielleicht würde sie ihm helfen, auf dem Wasser zu gehen.
Er blieb am Fenster stehen. Ein einsamer Hund durchquerte mit unbekanntem Ziel den Lichtkegel. Gleich darauf kam ein Mann angeschwankt. Er lehnte sich gegen den Pfosten und erbrach sich. Dann verschwand auch er.
Es klopfte an der Tür. Daniel zuckte zusammen. Er dachte, es sei Vater, der prüfen wollte, ob er Herein sagen würde, oder ob er die Tür öffnen würde, ohne sich zu vergewissern, wer draußen stand. Er wartete. Das Klopfen wiederholte sich. Es war sehr behutsam. Daniel sah die Hand vor sich. Ohne Handschuhe war sie weiß, mit schmalen Fingern. Er stürzte zur Tür und öffnete sie.
Da stand Ina Myrén, und sie trug keine Handschuhe. Daniel griff nach ihrer Hand und drückte sie gegen sein Gesicht. Unwillkürlich fing er an zu weinen. Plötzlich erinnerte er sich an einen Schmerz, der vor langer Zeit in ihm gewesen war. An einen Moment, als Be ihn, von unerklärlicher Raserei ergriffen, hart ins Gesicht geschlagen hatte. Er hatte angefangen zu bluten, und da hatte sie sein Gesicht so fest in den Sand gedrückt, daß er fast erstickt wäre. Jemand hatte sie gepackt und sie weggerissen, und danach war sie verschwunden gewesen und erst nach zwei Tagen wiedergekommen. Sie hatte nie etwas gesagt, nie erklärt, was sie dazu getrieben hatte, ihn zu schlagen. Für lange Zeit war es sehr still gewesen in der Familie.
Kiko hatte sich zurückgezogen. Erst später hatte Daniel begriffen, daß Be damals von Dämonen besessen war. Niemand wußte, woher sie gekommen waren. Vielleicht hatte sie verbotene Gedanken gehabt. Keiner wußte es. Erst als sie ein Kind gebar, das Daniels jüngere Schwester wurde, kehrte alles in die alten Bahnen zurück. Be schien vergessen zu haben, was geschehen war, Kiko schlief nachts dicht an ihrer Seite, und sie strich Daniel übers Haar, wie sie es immer getan hatte.
Jetzt flossen die Tränen, aber die Frau zog ihre Hand nicht zurück. Sie schloß die Tür hinter sich, setzte sich auf einen Stuhl, und Daniel bohrte seinen Kopf zwischen ihre Brüste.
Später saß er auf der Bettkante und sah zu Boden. Sie sagte nichts, saß nur da und wartete. Schließlich traute er sich, sie anzusehen. Sie lächelte.
- Es gab keinen Löwen, sagte er.
- Ich weiß, antwortete sie. Aber was gab es dann?
- Eine Antilope. Die Kiko in die Felswand gekerbt hat. Eine Antilope auf dem Sprung.
- Was gab es noch?
Plötzlich merkte er, daß er nicht auf dem Bett sitzen bleiben konnte. Eine Geschichte zu erzählen, das war damit verbunden, daß man auf der Erde saß. Nicht auf dem Sand, den es nicht gab, aber auf den Holzdielen, auf dem dunkelroten Teppich. Er hockte sich hin, und zu seinem Erstaunen stand sie von ihrem Stuhl auf und ließ sich mit gekreuzten Beinen ihm gegenüber nieder.
- Hier müßte es jetzt wohl ein Feuer geben.
Daniel nickte. Es verschlug ihm die Sprache. Wie konnte sie das wissen?
- Jetzt sitze ich dir gegenüber. Aber eigentlich sitzt da jemand anders.
Wieder nickte er. Sie zauberte mit ihm, sagte genau das, was er nicht von ihr erwartet, aber erhofft hatte. Trotzdem machte ihm das keine Angst.
- Be, sagte er. Oder Kiko, Undu oder Rigva, die hinkte und nur ein Auge hatte.
- Aber es war kein Löwe da?
- Kein Löwe.
Plötzlich bekam er Angst. Sie wußte zuviel, ohne es wissen zu können. Er hatte genug gelernt, um freundlichen und wohlmeinenden Menschen mit schmalen weißen Fingern zu mißtrauen. Sie wollten etwas von ihm, das er nicht zu geben vermochte.
- Kannst du seilspringen? fragte er, um sich zu wehren. Da er nicht wußte, ob er höflich genug gewesen war, machte er einen Zusatz.
- Ich heiße Daniel. Ich glaube an Gott.
- Ich kann seilspringen, antwortete sie. Vielleicht nicht mit diesen Röcken. Aber ich kann.
- Da war kein Löwe, sagte er wieder.
Plötzlich erhob sich die Frau. Sie ergriff sein Springseil, band die Röcke hoch, so daß ihre Strümpfe und ein Stück der nackten Schenkel zum Vorschein kamen, und fing an zu hüpfen. Es pochte hart gegen den
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