Die rote Antilope
niemand außer Vater betreten. Er hatte ihm Essen gebracht und dann die leeren Teller weggetragen. In der ersten Nacht hatte es heftig geschaukelt, und Vater war seekrank geworden und hatte sich mehrmals übergeben. Aber Daniel hatte in seiner Koje gelegen und sich vorgestellt, er sei ein sehr kleines Kind, das auf Bes Rücken dahinschaukelte, in ein Tuch gehüllt, das nach ihrem Körper roch. Mitunter hatte das Schiff stark gezittert, wenn sie von einer großen Welle erfaßt wurden. Ein paar Stunden lang hatten sie still gelegen und darauf gewartet, daß der Sturm sich legte. Daniel hatte an Deck Kühe brüllen gehört und in der Nachbarkabine stöhnende Menschen. Aber er war vollständig ruhig gewesen. Er hatte gewartet. Es gab für ihn keine andere Erklärung, als daß sie sich jetzt wieder auf dem Weg zurück übers Meer befanden. Der Aufbruch war sehr plötzlich gekommen. Daniel hatte geschlafen und von dem Duft gebratenen Fleisches geträumt, als Vater ihn wach gerüttelt hatte.
- Wir müssen bald aussteigen, sagte er. Du ziehst dich am besten gleich an.
Daniel hatte durch das vergoldete Bullauge gespäht. Draußen war es schwarz. Die Wellen waren bis zu seinem Gesicht hochgeschlagen und gegen die Fensterscheibe geprallt. Irgend etwas machte, daß er sofort Bauchweh bekam. Die Reise ging viel zu schnell. Außerdem war es zu kalt. Als er die Hand gegen die Scheibe drückte, an deren Außenseite die Wassertropfen herunterliefen, spürte er die Kälte. Er drehte sich um und sah Vater an, der gerade einen der Koffer zuklappte.
- Sind wir da? fragte Daniel.
- Wir werden gleich aussteigen, antwortete Vater. In einer Stadt, die Västervik heißt. Von dort aus geht die Reise dann weiter.
Vater verschloß den Koffer und richtete sich auf. Daniel sah an seinen Augen, daß er getrunken hatte.
- Wir haben ein neues Leben angefangen, sagte er. Aber jetzt
werden wir dieses Schiff verlassen. Alles wird gut.
Vater verschwand in der Dunkelheit. Der Landungssteg wurde eingeholt, und das Schiff wendete langsam in dem engen Hafenbecken und verschwand in der Dunkelheit. Das letzte, was Daniel sah, war die weiße Laterne, die ganz oben am vorderen Mast hing. Der Kai war jetzt menschenleer. Vater war fort. Der einsame Hund kam zurück und schnupperte an seinem Bein. Aber als er versuchte ihn zu streicheln, zuckte er zurück und verschwand.
Daniel dachte plötzlich, daß Vater ihn vielleicht verlassen hätte. Auf dieselbe Art wie der Hund und das Schiff. Einfach in die Finsternis eingetaucht. Er war jetzt ganz allein. Allein mit dem Gepäck und der Dunkelheit und dem Nieselregen. Er dachte an die Menschen in der Wüste, die alt gewesen und gestorben waren. Wenn sie fühlten, daß die Zeit gekommen war, zogen sie sich zurück. Manche legten sich in die Hütten, andere in den Schatten, und Daniel erinnerte sich an einen alten Mann, sein Name war ihm entfallen, der sich gegen einen Felsen gelehnt hatte. Und dort war er über eine Woche sitzen geblieben, ohne zu essen, zu trinken oder zu sprechen, bis er starb. Vielleicht sollte Daniel sich darauf gefaßt machen, daß ihm dasselbe bevorstand. Wenn die Sonne aufginge, würde er auf den Koffern sitzen und nichts anderes tun als zu warten, bis das Herz einen letzten Schlag täte und er tot wäre.
Der Gedanke erfüllte ihn mit Entsetzen. Er sprang vom Gepäck auf, warf die Decke ab und lief in die Richtung davon, in der Vater verschwunden war. Er wollte nicht sterben, noch nicht, nicht hier. Ohne Vater würde er nie in die Wüste zurückkommen. Er würde sterben, ohne daß irgend jemand davon erführe. Be und Kiko würden vergebens suchen, ohne ihn jemals finden zu können.
In der Dunkelheit rannte er geradewegs in jemanden hinein.
Vater. Hinter ihm kam ein klappernder Wagen, gezogen von einem Pferd.
- Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Gepäck bewachen. Was tust du hier?
- Ich habe dich gehört. Vater packte ihn hart am Arm.
- Wir müssen sofort los. Wenn es Morgen wird, müssen wir schon weit weg von hier sein. Wir sind bereits verspätet. Ich habe nichts anderes auftreiben können als dieses Pferd. Und es wirkt schwach.
Der Mann, der auf dem Kutschbock saß, hatte nur ein Auge. Er war alt, und seine Unterlippe hing herab. Er sah Daniel an, als würde es ihn eigentlich gar nicht geben. Vater lud das Gepäck auf, und Daniel kletterte hoch und hockte sich auf die Koffer. Vater bestieg den Kutschbock und legte sich einen abgeschabten Pelz um die Schultern.
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