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Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Zuschauern herrschte angespannte Stille, so, als würden sie etwas ebenso Gutes oder gar Besseres als die Spiegelnummer erwarten. Nach Marias beeindruckendem Zaubertrick war ich alles andere als erpicht darauf, eine normale Messerwerfernummer vorzuführen, aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Zuschauer klatschten erwartungsvoll.
    Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen und stellte fest,dass mich niemand ansah – alle Augen waren auf Maria gerichtet, die mit ausgebreiteten Armen vor der Zielscheibe stand. Das Letzte, was ich in diesem Moment machen wollte, war die Messernummer vorzuführen. Ich brauchte den Ansporn des Publikums. Es war mir schwergefallen, die bissigen Bemerkungen an mir abprallen zu lassen, und jetzt reichte es nicht, dass Maria mich ermunternd anschaute und so tat, als gäbe es keine Zuschauer. Ich hielt das Brett mit den sechs Messern hoch, nahm sie nacheinander heraus und ließ sie gegeneinanderklirren, damit die Leute sahen, dass sie echt waren. Niemand beachtete mich, und es schien mir sinnlos, irgendeinen Zuschauer zu bitten, die Härte der Klingen zu überprüfen. Ich hätte das erste Messer schon längst werfen sollen, brachte es aber nicht fertig. Wenn die Zuschauer nicht zeigten, dass sie an mich glaubten, konnte ich mich nicht konzentrieren, und das war gefährlich. Plötzlich spürte ich, wie mich jemand ansah, und drehte mich um. Nicht weit von mir stand ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen in einem roten Rock und warf mir bewundernde Blicke zu. Ich schaute fest in ihre dunklen Augen, sie errötete, sah aber nicht weg. Sie schien Maria gar nicht zu beachten. Ich ging zu dem Mädchen und zeigte ihr die Messer.
    »Sind das echte Messer?«
    »Ja, hier, versuch mal eins festzuhalten.«
    »Das ist aber groß und schwer. Wollen Sie es wirklich auf die Frau werfen?«
    »Nein, aber direkt neben sie.«
    »Ich weiß«, sagte das Mädchen und grinste, »ich habe Sie doch nur geneckt.«
    Ich war verwirrt. Obwohl das Mädchen kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre alt war, wirkte es entschlossen und resolut. Mit geröteten Wangen schaute es mir in die Augen.
    »Es wird spannend zu sehen, ob Sie es schaffen.«
    »Glaubst du, dass ich es schaffe?«, fragte ich und spürte zu meiner Verwunderung, dass meine Stimme zitterte.
    »Ja, ich bin mir sicher.«
    »Du bist ein gutes Mädchen. Wie heißt du?«
    »Salome, und Sie heißen Michael.«
    Ich umarmte das Mädchen, tätschelte ihm den Kopf und ging auf die Wurfposition. Da ich jetzt wusste, dass außer Maria noch jemand da war, der an mich glaubte, konnte ich die Nummer vorführen. Die ersten fünf Messer warf ich schneller und sicherer als je zuvor, zwischen Marias Hände und Füße, rechts und links neben ihren Kopf und zwischen ihre Beine. Maria nahm die herzförmige Zielscheibe und hielt sie sich vor den Bauch. Ich wollte das letzte Messer gerade werfen, als ich zögerte. Obwohl ich schneller, besser und energischer geworfen hatte, als ich es je bei anderen gesehen hatte, reagierten die Zuschauer nicht. Nur Salome starrte mich gebannt an und winkte. Ich musste an ihre Worte denken:
    Wollen Sie das Messer wirklich auf die Frau werfen?
    Ich schaute einen Moment lang in Salomes bewundernde Augen, doch ihr Gesicht war nachdenklich. Dann blickte ich zu Maria. Sie hielt sich die Zielscheibe vor den Bauch, aber meine Augen wanderten ungewollt immer wieder hinauf zu ihrer linken Brust. Samuel Wallenda hatte mir beigebracht, dass ich auf keinen Fall an etwas anderes denken durfte als an die Zielscheibe. Anderenfalls sollte ich nicht werfen. Aber ich musste das letzte Messer werfen, da ich schon so weit gekommen und so gut gewesen war. Ich zwang mich, auf die Zielscheibe zu schauen, lehnte mich zurück und holte aus. Kurz bevor ich das Messer losließ, merkte ich, dass ich Marias linke Brust ansah, aber es war zu spät. Das Messer flog aus meiner Hand, nahm seine unaufhaltsame Bahn, und ich konnte nur noch rufen:
    »Neiiin!«
    Wie vereinbart bewegte Maria sich nicht, und ich schloss die Augen. Im nächsten Augenblick brachen die Zuschauer in lautes Hurra und Jubelrufe aus. Ich öffnete die Augen. Maria stand triumphierend da, die Zielscheibe vor ihrer linken Brust. Das Messer steckte in der Mitte der Scheibe. Ich lief zu ihr, drückte sie impulsiv an mich und küsste sie.
    »Maria, ich hatte solche Angst, dass ich …«
    Sie führte mich vor die Zuschauer, und wir verbeugten uns. Die Leute wollten eine Zugabe, aber wir verneigten uns nur ein

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