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Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman

Titel: Die Rückkehr der Jungfrau Maria - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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letzten Worte des Ansagers neugierig:
    »… folgt unser Hintergrundbericht
Stipendienbetrug oder ein neuer Messi
…«
    Ich drehte wieder lauter, und ein Bild von Maria erschien. Man sah, wie sie in ein öffentliches Gebäude gebracht wurde, stehenblieb und in die Kamera schaute. Ihre Kleidung wirkte halb durchsichtig, ihr Gesicht jedoch nicht. Man konnte ihr nicht ansehen, wie sie sich fühlte. Zwei Wärter wollten sie vorwärts stoßen, zuckten aber bei der Berührung zurück.
    »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte Maria.
    Man sah ein paar Mikrofone ins Bild ragen, dann richtete sich die Kamera nur noch auf ihr Gesicht. Obwohl das Bild seltsam unscharf war, konnte man Maria gut erkennen. Die Leute um sie herum verstummten, und Maria begann mit ihrer Geschichte:
    »Es war einmal eine kleine Walddrossel, die sich danach sehnte, die Welt zu verstehen. Doch je mehr sie nachdachte, desto weniger verstand sie. Als sie am Ende gar nichts mehr verstand, spürte sie, dass sie sich danach sehnte, an einen allwissenden Gott zu glauben, es aber nicht konnte. Sie fühlte sich sehr schlecht, als sie sich an die Eule wandte, den weisesten Vogel des Waldes, und ihm ihr Leid klagte.
    ›Du willst also an einen allwissenden Gott glauben‹, sagte die Eule.
    ›Nichts wünsche ich mir sehnlicher‹, antwortete die Drossel.
    ›Dann musst du all deinen Besitz den Armen schenken und jeden Tag Gutes für die Bedürftigen tun. Wenn Gott dir innerhalb eines Jahres nicht in Freude erscheint, sollst du wieder zu mir kommen.‹
    Die Drossel befolgte alle Ratschläge der Eule, doch nach einem Jahr war Gott ihr noch nicht erschienen, und sie ging wieder zur Eule, noch verzweifelter als vorher.
    ›Glaubst du jetzt an einen allwissenden Gott?‹, fragte die Eule.
    ›Nein‹, antwortete die Drossel niedergeschlagen.
    ›Möchtest du denn immer noch an einen allwissenden Gott glauben?‹, fragte die Eule.
    ›Nichts wünsche ich mir sehnlicher‹, entgegnete die Drossel.
    ›Dann sollst du alle Besitztümer, die du verschenkt hast, zurückverlangen und allen, denen du zuvor Gutes getan hast, Schaden zufügen. Wenn Gott dir innerhalb eines Jahres nicht in Zorn erscheint, sollst du wieder zu mir kommen.‹
    Die Drossel befolgte die Ratschläge der Eule, doch nach einem Jahr war Gott ihr immer noch nicht erschienen, und sie ging zur Eule, noch verzweifelter als vorher.
    ›Glaubst du jetzt an einen allwissenden Gott?‹, fragte die Eule.
    ›Nein‹, antwortete die Drossel mit hängendem Kopf.
    ›Möchtest du denn immer noch an einen allwissenden Gott glauben?‹, fragte die Eule.
    ›Nichts wünsche ich mir sehnlicher‹, antwortete die Drossel.
    ›Dann sollst du sechsmal am Tag deine Sünden im Gebet bereuen, jeweils eine Stunde lang, dich zwischendurch mit einer Peitsche züchtigen und jeden zweiten Monat fasten. Wenn Gott dir innerhalb eines Jahres nicht in Vergebung erscheint, sollst du wieder zu mir kommen.‹
    Die Drossel befolgte die Ratschläge der Eule, doch nach einem Jahr war Gott ihr immer noch nicht erschienen, und sie kam zur Eule, mehr tot als lebendig vor Hunger und Schmerz.
    ›Glaubst du jetzt an einen allwissenden Gott?‹, fragte die Eule.
    Da schaute die Drossel die Eule mit müden Augen an und seufzte:
    ›Nein, weise Eule, und ich wünsche mir nicht mehr, an einen allwissenden Gott zu glauben.‹
    ›Dann habe ich dich geheilt, kleine Drossel‹, sagte die Eule, ›nun geh und lebe weiter so wie damals, bevor du zu mir gekommenbist, und denk daran, dass die Eule der weiseste Vogel des Waldes ist.‹
    Und das tat die Drossel für den Rest ihres Lebens, und als sie starb, da starb sie, ohne etwas zu wissen und ohne an etwas zu glauben.«
    Als Maria die Geschichte zu Ende erzählt hatte, schwenkte die Kamera auf eine Reporterin:
    »Steckt diese Frau hinter einem der größten Finanzskandale in unserem Bildungssystem oder ist sie die Reinkarnation der Jungfrau Maria? Das ist die Frage, die sich in diesen Tagen viele stellen. Hören wir, was Bischof Jean Sebastian dazu zu sagen hat.«
    »Es wundert mich, dass die Leute dieses arme Mädchen immer wieder solche oberflächlichen Geschichten erzählen lassen. Aber wenn sie schon mal auf dem Bildschirm erscheint, sollte man die Gelegenheit nutzen und alle, die das Mädchen von Fotos kennen und je mit ihr geschlafen haben, aufrufen sich zu melden. Das ist der einzige Weg, diesen Aberglauben im Keim zu ersticken. Sie glauben allen Ernstes daran, sie sei die

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