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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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nächsten Blinzeln war der Spuk verschwunden und Lis sagte sich schnell, dass sie sich das Gespenst eingebildet hatte. Rasch bog sie ins Gässchengewirr ab, das sich Stufe um Stufe zur Kirche hinaufschlängelte, und drückte das Medaillon behutsam an sich. Der Schreck darüber, dass es auf dem Boden hätte aufschlagen können, war verflogen.
    Das Kopfsteinpflaster war grob, uneben und mit zahlreichen Flecken übersät; die Stufen, die zur Kirche hinaufführten, waren zum Teil zerbrochen. Endlich stand sie keuchend an der Kirchenmauer, wo sie einen majestätischen Blick auf die Dächer der Stadt hatte. Von hier oben sah der Tartiniplatz aus wie ein weißes Floß in einem Meer von gewellten, flachen Ziegeldächern. Unzählige Dachterrassen enthüllten hängende Gärten und die aus orangefarbenen Ziegeln gemauerten Schornsteine hatten die Form von Vogelhäuschen. Lis versuchte irgendwo auf den Ameisenstraßen zwischen den Häuschen ihren Bruder zu entdecken, aber wahrscheinlich war er schon längst wieder im Turmzimmer und hatte das Laptop hochgefahren. Nachdenklich ging sie um die Kirche herum zur meerzugewandten Seite. Hier wehte der Wind viel stärker und riss an ihren Haaren. Sie zog ihr Halstuch zurecht und trat zur Kirchenmauer. Von dort aus konnte sie in die Bucht von Strunjan blicken. Direkt unter ihr, fast vierzig Meter weiter unten, lag der Strand, an dem sie gestern gebadet hatten. Und irgendwo weiter links war die Stelle, an der das Medaillon darauf gewartet hatte, dass Con-Krieger Levin es fand.

Die Kuriere
     
    N
    och halb im Schlaf fühlte Lis, wie jemand ihre Schulter berührte und ihren Namen flüsterte.
    Mühsam kämpfte sie sich hoch aus einem beängstigenden Traum von rauschenden Meereswogen und einem dunklen Mann, der buschige Brauen runzelte, und erkannte, dass sie im Dachzimmer lag. An ihrem Bett saß Levin. In der Dunkelheit konnte sie ihn nur als Schattenriss erkennen.
    »Lis, wach auf!«
    Sie rieb sich die Augen und richtete sich benommen auf. »Warum denn? Was ist los?«
    »Nichts ist los, du sollst nur aufstehen.«
    »Lass mich gefälligst schlafen!«
    »Komm schon, Lis! Ich muss dir was zeigen.«
    »Lässt du mich dann in Ruhe?«
    »Ehrenwort. Los, komm jetzt, du musst dir was anschauen!«
    Lis seufzte und tastete sich aus dem Bett.
    »Nicht das Licht anmachen!«, hörte sie Levins Stimme. Er trat ans Fenster, das weit geöffnet war. Der Nachtwind blähte die Vorhänge. Es hatte aufgehört zu regnen. Zwischen den Dächern lag das Meer unter einer dichten schwarzen Wolkendecke wie ein dunkelgrauer Spiegel. Nur an wenigen Stellen fiel ein schmaler Streifen Mondschimmer auf die Wellen.
    »Siehst du das?« Levin deutete auf ein längliches schwarzes Etwas, das langsam über das Wasser glitt.
    Lis kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Suchst du etwa nach den Piratenschiffen?«, flüsterte sie. »Bist du jetzt übergeschnappt? Und deshalb weckst du mich?«
    »Jetzt fang nicht gleich wieder an zu meckern. Bist du immer noch sauer?«
    Lis schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass Levin sie im Dunkeln kaum sehen konnte. »Nein«, sagte sie leise. »Ich fühl mich nur so allein manchmal.« Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie das gesagt hatte, aber die Dunkelheit löste die Knoten, die ihr tagsüber die Kehle zuschnürten. Alles lag ganz klar und logisch vor ihr. »Du weißt, dass Mama und Papa, dass sie sich wahrscheinlich schei…«
    »Ja«, antwortete Levin knapp. »Schließlich bin ich nicht blöd.«
    Obwohl er so grob mit ihr sprach, war Lis erleichtert. Eine Weile schwiegen sie und betrachteten den Schatten auf dem Wasser, der sich kaum bewegte.
    »Lass uns zum Leuchtturm gehen«, sagte Levin.
    »Jetzt?«
    Seine Augen glänzten in der Dunkelheit. »Warum nicht? Mein Gott, spring doch einmal über deinen hoch korrekten Schatten. Wir haben das Medaillon gefunden. Vielleicht sehen wir noch ein Gespensterschiff. Und wenn nicht, ist doch auch egal. Es geht nicht um das Geisterschiff, es geht darum, einfach hinauszugehen, jetzt, mitten in der Nacht.« Ob er wusste, wie bittend seine Stimme klang?
    »Okay«, flüsterte sie nach einem kurzen Zögern. »Aber etwas anziehen darf ich mir noch, oder?«
    »Klar, ich warte unten an der Tür.«
    So leise wie möglich schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich ein T-Shirt an und nahm noch den Regenanorak mit. Automatisch suchte sie dann nach einem ihrer Halstücher, bis ihr einfiel, dass Levin und sie ganz allein auf den Straßen sein

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