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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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würden. Nach kurzem Zögern tastete sie nach dem Medaillon und steckte es ebenfalls ein. Dann schlich sie über knarrende Treppenstufen nach unten. Im Halbdunkel erkannte sie, dass sich Levin seinen Priestermantel umgelegt hatte und den Hohepriesterstab in der Hand hielt. Sein Gesicht war von dem grünen Schimmer seines Handy-Displays erhellt. Konzentriert tippte er eine SMS ein. Lis musste unwillkürlich lächeln. Typisch Levin, dachte sie. Hoffentlich ging niemand in der Nacht am Strand spazieren.
    Leise wie Schatten schlüpften sie durch die Tür und standen auf der nachtstillen Gasse. Von fernher hörten sie Donnergrollen. Schweigend gingen sie das Sträßchen entlang, das zum Meer führte, stolperten über unregelmäßige Bodensteine und huschten schnell an der orangefarbenen Nachtbeleuchtung in den Straßen vorbei. Hoch über ihnen stand die Kirche, die von Scheinwerfern in gelbliches Licht getaucht wurde.
    Die Wolken leuchteten in einem unwirklichen Grau über dem schwarzen Wasser. Der Vollmond hatte sich hinter der dichten Wolkendecke verborgen, aber man erahnte seinen Schimmer, der sich als fahles Licht durch die Wolken abzeichnete. Kühler Nachtwind strich über Lis’ Hals und wirbelte ihr Haar auf. Unwillkürlich strich sie einige Strähnen über ihr Feuermal, obwohl sie wusste, wie sinnlos diese Geste hier war. Milchig hell leuchtete der maurische Leuchtturm in der Dämmerung. Weiß blinkte das Leuchtturmlicht in die Nacht.
    Sie standen nun an der äußersten Spitze der Halbinsel, vor ihnen, rechts und links war nur noch Meer. Levins Mantel flatterte im Mitternachtswind. Wie ein Krieger aus ferner Vorzeit stand er vor den Uferfelsen und kniff die Augen zusammen. Sein Priesterstab zeichnete sich als scharfe Kontur gegen den Himmel ab. Lis blinzelte in den Wind und ließ ihren Blick über die gekräuselte See schweifen. Kein Schatten glitt über das Wasser.
    »Da ist nichts«, flüsterte Lis schließlich. Sie fühlte sich eigenartig losgelöst. Hier, vor dem einsamen Leuchtturm, eingehüllt in das Meeresrauschen, schienen sie und Levin ganz allein auf der Welt zu sein.
    »Na und?«, gab Levin zurück. »Ist es nicht schön hier? Eine magische Nacht. Schau, gleich kommt der Mond hervor.«
    Einige Wolkenfetzen waren auseinander gedriftet und hatten einen silbrigen Rand bekommen. Lis legte den Kopf in den Nacken und sog die Nachtluft tief in ihre Lungen. Vorsichtig tastete sie nach dem Medaillon. Ihre Finger schlossen sich um einen glatten Gegenstand. Lis stutzte und zog vorsichtig die Kette heraus. In diesem Moment brach ein weißer Mond hinter den Wolken hervor. Mit rasendem Herzen starrte Lis auf das glänzende Medaillon. Poliertes Silber reflektierte das Mondlicht. Die Verkrustungen und Verfärbungen waren verschwunden. »Levin!«, flüsterte sie.
    Ihr Bruder drehte sich um. Im ersten Augenblick verstand er nicht, was Lis ihm zeigte, doch als er das Medaillon erkannte, wurden seine Augen groß. Erschrocken sahen sie sich an. »Was ist hier los?«, flüsterte Levin.
    Lis schüttelte nur den Kopf und blickte sich um. Fast hätte sie aufgeschrien, als sie bemerkte, dass ein geisterhafter Nebel aus dem Meer aufstieg. Das Medaillon in ihrer Hand fühlte sich warm und glatt an. Lis umschloss es mit ihren klammen Fingern, als wollte sie sich daran festhalten, und rückte näher an Levin heran. Es ist nur eine Täuschung, redete sie sich ein. Sie fühlte beinahe körperlich, wie angespannt ihr Bruder war, seine Hände umklammerten den Hohepriesterstab, als wäre er bereit zum Kampf. In diesem Moment hörten sie ein Knarren. Unwillkürlich wichen sie zurück, bis sie mit dem Rücken an der rauen Rundmauer des Leuchtturms standen, und starrten in den Nebel, der über das Wasser wehte. Noch lauter ertönte das Knarren – und plötzlich schob sich die schwarze Silhouette eines Schiffes aus dem Nebel.
    Schrecklich und schön strich es dicht hinter den Felsen vorbei. Ein gemein aussehender Sporn am Bug schnitt durch den Himmel. Die Taue knarzten, das Segel war halb gerefft, der Mast sah aus wie ein schräges T – oder wie ein Galgen, schoss es Lis durch den Kopf. Sie wagte kaum zu atmen und krampfte die Hand um das Schmuckstück. Männer standen mit dem Rücken zu ihnen an der Reling. Sie trugen Kopfbedeckungen aus Tuch und lange Gewänder, deren Goldstickereien hier und da aufschimmerten. Über die Schultern hatten sie schwere Langbögen gelegt und hielten stumm Ausschau nach etwas, das weit draußen im Meer zu

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