Die Rückkehr der Zehnten
liegen schien. Lis und Levin rückten zusammen und machten sich so klein wie möglich. Lis hielt die Luft an. Lautlos glitt das Schiff an ihnen vorbei und nahm Kurs auf die Bucht von Piran.
Levin atmete auf. Lis spürte, wie ihre Zähne klapperten. Mit weichen Knien standen sie auf und spähten dem Schiff hinterher. Levin legte einen Finger an die Lippen und deutete in die Richtung, wo jenseits des Meeres normalerweise die Stadt Grado lag. Lis folgte dem Blick ihres Bruders und hatte im selben Augenblick das Gefühl, als schwebte sie körperlos und ohnmächtig vor dem Leuchtturm.
Ein silberheller Nebel hatte sich erhoben und lag nun wie ein schemenhaftes riesiges Tier auf dem Wasser. Hohle Schattenaugen schienen Lis und Levin anzustarren. Durch das Wirbeln der Nebelschlieren schien sich das Ungetüm zu bewegen, doch nach den ersten atemlosen Angstsekunden erkannte Lis, dass der Nebel lediglich etwas verbarg, etwas Helles, Kantiges, das sich nach und nach aus dem Nachthimmel schälte.
»Siehst du das auch?«, hörte sie Levin flüstern.
In der Dunkelheit leuchtete sein Gesicht wie ein bleicher Mond. Sie versuchte ihm eine Antwort zu geben, aber ihre Kehle fühlte sich an, als hätte ihr jemand die Luft abgedrückt, also zwang sie sich dazu, zumindest zu nicken. Irgendwie war es wichtig, Levin eine Antwort zu geben und den Anschein eines Gesprächs aufrechtzuerhalten. Wenn die Normalität jetzt verschwand, so kam es ihr vor, würde ihr Verstand ebenfalls abhanden kommen. »Ja«, wisperte sie mit Mühe. »Ich sehe das auch – vielleicht ist das so etwas wie eine… eine Spiegelung.«
Die letzten Nebel verwehten, als eine Bö über die Bucht hinwegfegte. Von einem Augenblick auf den anderen leuchtete im Mondlicht eine helle Stadtmauer aus grob behauenen Steinen. Hinter der Mauer zeichnete sich ein hölzerner Turm ab und flache Hausdächer, die aus Holz oder Reisig gemacht zu sein schienen. Lis schätzte die Entfernung bis zur Mauer auf etwa fünfzig Meter. Zum riesigen Haupttor der Stadt führte ein schmaler Holzpfad, der auf Pfähle aufgesetzt war. Etwa einen halben Meter hoch ragten sie aus dem Meer und endeten genau an dem Steinwall vor dem Piraner Leuchtturm. Lis schluckte. Ihr Mund war trocken, die Augen brannten, ihre Hände und Beine fühlten sich immer noch so unwirklich an, als wäre sie in einem Traum gefangen. Sie folgte dem Pfad mit dem Blick. »Der Weg führt von hier direkt in die Stadt«, wisperte sie Levin zu.
Levin nickte. »Ob da jemand demnächst über das Wasser hierher kommt?«, fasste er nach einer Weile ihre schlimmste Befürchtung in Worte. »Vielleicht einer von denen, die vorher auf dem Schiff waren? Die hatten Waffen!«
Angespannt starrten sie auf das schattenfleckige Tor, aber nichts rührte sich.
»Scheint sich nichts zu tun«, meinte Levin.
»Ob wir uns den Weg mal anschauen? Er ist mitten aus dem Meer aufgetaucht.«
Er zuckte wie in Trance die Schultern und bewegte sich nicht von der Stelle.
Lis strich über das Medaillon, das wieder warm und Vertrauen erweckend in ihrer Hand lag, dann folgte sie einem kribbelnden Impuls und machte einige vorsichtige Schritte auf die Uferfelsen zu. Langsam, wie eine Schlafwandlerin, kletterte sie über die grob behauenen Steine, bis sie direkt am Wasser stand. Blutsteinschwarze Wellen schlugen gegen die Felsen. Vorsichtig stellte sie einen Fuß auf den Holzpfad und prüfte, ob er sie hielt. »Komm mal her! Das fühlt sich an wie richtiges Holz!«, flüsterte sie Levin zu.
Zögernd erhob er sich und kam näher. »Sollten wir das nicht lieber lassen?«, fragte er. »Was ist, wenn die Bogenschützen zurückkommen?«
»Glaubst du, dass es sie wirklich gibt?«
Er grinste unsicher. »Den Holzpfad gibt es.«
Sie lächelte und sah zur Stadtmauer hinüber. Mit Erstaunen stellte sie fest, wie ihre Furcht verflog und einer sehnsüchtigen Neugier Platz machte. »Ich will nur bis zur Mauer gehen, Levin. Kommst du mit?«
Heftig schüttelte er den Kopf. »Bist du wahnsinnig? Das Ding ist offensichtlich gerade aus dem Meer aufgetaucht. Was meinst du, was das für einen Sog gibt, wenn es wieder untergeht?«
Sie lächelte. »Seit wann bist du so realistisch? Schau doch, der Pfad trägt uns!« Zur Bestätigung machte sie ein paar Schritte auf dem Holz. Es fühlte sich beruhigend fest an. »Und falls sich irgendetwas tut, springen wir einfach ins Wasser und schwimmen wieder an Land.«
»Mit meinem Handy ins Wasser springen, tolle Idee!«, sagte er
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