Die Rückkehr der Zehnten
die mit dem Leben, das sie führen, unglücklich sind. Und das Traurige ist – sie wären wie die schöne Vida mit jedem Leben unglücklich, nicht wahr?«
Seine flüsternde Stimme ließ sie frösteln. »Nein«, sagte sie und sah ihn nun mit offener Feindseligkeit an.
Er legte den Kopf schräg und zog die Augenbrauen zusammen. »Wie du meinst«, schloss er.
»Ein schwarzer Mann hat sie mitgenommen?«, fragte Levin.
Kajetan nickte ohne Hast. »Man nimmt an, dass die Geschichte aus dem Mittelalter stammt, als sarazenische Piraten die Küste unsicher machten. Ihre Schiffe sieht man in bewölkten und stürmischen Nächten zuweilen noch in der Bucht kreuzen.«
»Piraten?«, rief Levin. Jetzt war er Feuer und Flamme.
»Geisterschiffe der Sarazenenpiraten«, sagte Kajetan ohne eine Regung. »Ihre Schatten gleiten durch die Bucht von Strunjan. Zumindest erzählt man diese Schauergeschichte gerne den Kindern.«
»Haben Sie die Piratenschiffe gesehen?«
Lis hätte ihrem Bruder am liebsten gegen das Schienbein getreten. Wieder benahm er sich wie ein Spinner, der an Geistergeschichten glaubte.
Kajetan sah Levin lange an, dann stand er abrupt auf. »Natürlich nicht«, sagte er schroff und öffnete die Tür, die wieder zu den Wappennixen und in den Kassenraum führte. »Kommt nächste Woche vorbei, dann weiß ich vielleicht mehr über die Schrift.«
»Vielen Dank!«, sagte Levin und streckte ihm die Hand hin.
»Ja, ja«, erwiderte Kajetan, ohne Levins Hand zu ergreifen, und scheuchte die Zwillinge zum Holztor, das er mit einem großen Schlüssel aufschloss.
Nach der Zeit im Halbdunkel des Zimmers mussten sie auf der Straße die Augen zusammenkneifen. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war noch grauer geworden.
»Was für ein Freak«, meinte Levin. »Richtig unheimlich. Aber Klasse! Wir müssen unbedingt noch mal hin – aus den ganzen Geschichten lässt sich direkt ein neuer Charakter bauen. Falls ich als Priester mal sterbe, ziehe ich die nächste Staffel als Sarazene durch.«
Lis funkelte ihn an. »Sag mal, kannst du eigentlich an nichts anderes mehr denken als an deine blöden Rollenspiele?«
Levin war aufrichtig erstaunt. »He, was ist denn mit dir los?«
»Das Medaillon stammt nicht aus einem deiner Läden, wo es Rollenspiel-Zubehör gibt, Levin. Es ist Realität! Es hat vielleicht einem Mädchen gehört, das von seiner Familie geopfert oder verstoßen wurde. Vielleicht hat man sie sogar ertränkt. Das ist real! Und bei Tante Vida sitzt Mama und heult sich die Augen aus. Das ist Realität!«
»Jetzt reicht’s aber!«, brüllte er auf Deutsch so laut, dass sich ein paar Passanten nach ihnen umdrehten. »Du redest ja schon genauso wie Mama. Ich habe vielleicht meine Welt, ja, aber das ist immer noch besser, als sich ständig zu verkriechen und sich mit wichtiger Miene Leid zu tun! Hier, mach damit, was du willst!«
Mit einem Schwung holte er das Briefkuvert aus der Innentasche und warf es Lis zu. Während sie mit einer erschrockenen Reflexbewegung das Kuvert auffing, das mit einem leisen metallischen Klirren in ihrer Hand landete, hatte sich Levin bereits umgedreht und ging mit hochgezogenen Schultern am Hafen entlang.
Lis blieb mit rasendem Herzen stehen und kämpfte gegen die Tränen. Bravo, dachte sie. Ich tue mir also selbst Leid. Trotzig wischte sie sich über das Gesicht, drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Sie überquerte den marmorweißen Tartiniplatz und ging am roten Palazzo vorbei, der als »Benečanka« – »Venezianerin« – bezeichnet wurde. Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter ihr die Geschichte des Hauses erzählt: Ein venezianischer Kaufmann hatte das Gebäude für seine junge Geliebte errichten lassen. Zwischen den spitz zulaufenden gotischen Fenstern befand sich die Inschrift »Lassa pur dir« – »Lass sie doch reden!«.
Heute konnte Lis nicht darüber lachen. Ob der Kaufmann zu Hause in Venedig auch Kinder gehabt hatte und eine Ehefrau, die nachts heimlich weinte? Lis blinzelte und kniff die Augen zusammen. Eine seltsame Spiegelung tanzte im rechten Fenster im ersten Stock. Wahrscheinlich waren es nur die Wolken, aber für einen Augenblick glaubte Lis deutlich ein transparentes Frauengesicht am Fenster zu sehen. Auf dem taghellen Platz stehend hatte sie plötzlich dasselbe Gefühl, das sie überfiel, wenn sie nachts alleine in den Keller ging, um eine neue Wasserflasche heraufzuholen, und mit einem Mal unsichtbare Augen im Schatten lauerten. Beim
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