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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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richtige Lis gerade jetzt in diesem Augenblick, jetzt in Hunderten von Jahren in München und träumte von einer seltsamen Stadt?
    Lis spürte, wie diese Vorstellung ihr die Luft abdrückte. Nein, sagte sie sich, du darfst nicht in Panik geraten. Wir kommen zurück nach Piran. Wir werden nicht sterben.
    Im bauchigen Tiegel schrumpften die Silbermuscheln, lösten sich auf, versanken in der quecksilberartig spiegelnden Schmelze. Stumm sah der Zirkel zu, wie die Wahrzeichen des geheimen Rates der Desetnica zerfielen.
    Lis’ Augen brannten, als sie die kochende Masse beobachtete. Sie bemerkte nicht einmal, wie die Tür aufging. Blinzelnd erkannte sie, dass es Matej war, ein gehetzter, besorgter Matej, der keuchte, als sei er lange gerannt. »Hier!«, sagte er zu Borut und wuchtete einen Sack auf den Boden.
    Er war gefüllt mit Getreide, doch Borut und Matej knieten sich sofort daneben und begannen mit den Fingern die Körner zu durchkämmen. Ein Medaillon nach dem anderen kam zum Vorschein, die kochende Masse zischte und fauchte wie ein wütendes Tier, als die mit Getreidestaub bedeckten Medaillons hineingeworfen wurden.
    Endlich war die letzte Silbermuschel verschwunden. Der Schmelztiegel war beinahe voll. Borut drehte an dem Stock, der den bauchigen Kessel in Position hielt. Flüssiges Silber kippte zischend auf eine Steinplatte, die mit Vertiefungen durchsetzt war. Fauchend folgte das flüssige Metall seinem vorgezeichneten Weg, bis es langsamer wurde und schließlich erstarrte.
    Matej wischte sich über die verschwitzte Stirn. Die Hitze in der Hütte war unerträglich. Mehrmals wiederholten sie den Gießvorgang, zogen die silbernen Zierleisten und Schmuckplatten, die sie gegossen hatten, vom Stein, kühlten die Steinform und fuhren fort, bis alles Silber verbraucht war.
    Die Mitglieder des Zirkels sahen schweigend zu, einige von ihnen verließen die Hütte, ohne sich zu verabschieden. Schließlich löschten sie das Schmiedefeuer mit Sand und Asche.
    Zum ersten Mal hob Matej den Kopf und sah Lis an. Einen Moment lang runzelte er die Stirn. Lis wurde bewusst, dass sie immer noch in ihrer Festtracht dasaß, mit dem goldenen Halsschmuck und dem Goldglanz auf den Armen und Wangen, obwohl er inzwischen bestimmt schon verwischt war. Matej sah sie an wie eine Geistererscheinung, in seinen Augen spiegelten sich Verwirrung, Erstaunen und ebenso viel gehetzte Angst, wie sie selbst sie fühlte. In diesem Moment war es ihr, als schaute sie in ihr eigenes Spiegelbild. Beinahe erschrak sie, als er aufstand und auf sie zukam. Im ersten Augenblick befürchtete sie, er würde sie wieder anfahren oder verspotten, und sie machte sich innerlich bereit, mit einer ebenso scharfen Antwort zu kontern, doch er setzte sich nur neben sie und schaute sie besorgt an. »Geht es dir nicht gut, Lisanja?«, fragte er leise.
    Diese Worte erschütterten sie mehr, als es eine seiner Spötteleien vermocht hätte. Gerne hätte sie ihm alles erzählt, auf der Stelle, die ganze Wahrheit über ihre Herkunft, über den nächtlichen Ausflug zum Leuchtturm, über Live-Cons und Rollenspiele und über ihre traurige Mutter, die am Küchentisch saß mit der Tasse in der Hand und auf die Piraner Gassen starrte. Wie weit weg ihr das alles erschien, wie ein Traum, den sie zu vergessen begann. »Nein, es geht mir nicht gut«, flüsterte sie ihm zu und senkte den Kopf.
    Seine Stimme war sanft und tat ihr wohl. Noch nie war ihr Matej so vertraut gewesen wie jetzt. »Ich habe auch Angst, Lisanja. Jedes Mal, wenn ich einen Priester sehe, zucke ich zusammen, weil ich denke, nun haben sie uns entdeckt, jeden von uns. Aber bald wird es sich entscheiden. Borut hat mir erzählt, dass die Sarazenen ihre Schiffe nicht mehr verbergen. Sie sammeln sich vor der Küste, der Krieg kann jeden Augenblick beginnen.«
    Lis schauderte und nickte. Sie hatte keine Wahl, niemand hatte eine Wahl. Der Sturm auf Antjana würde stattfinden, so oder so. Für den geheimen Zirkel der Kuriere gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie würden von Niams Spähern gestellt oder viele von ihnen würden im Kampf um die Stadt umkommen, sobald die Desetnica mit ihren Truppen einfiel.
    Sie musste so schnell wie möglich zu Levin. Er war der Einzige, der an Niam vorbei zu den Kurieren gelangen konnte. »Ich muss zurück zum Palast«, sagte sie zu Matej und stand auf.
    Er lächelte. »So, mit all dem Goldschmuck?« Seine Stimme klang nicht tadelnd, sondern eher amüsiert. »Du denkst an viel, Lisanja, aber

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