Die Rückkehr der Zehnten
ist mit den Spähern? Sind sie Zorans Zirkel auf der Spur?«
»Noch nicht, aber sag Zoran und den anderen, sie sollen ihre Ketten mit dem Porträt der Desetnica gut verbergen. Die Kuriere haben bei ihrer Festnahme ihre Ketten zwar weggeworfen, aber dennoch hat Niam herausgefunden, dass es sich bei den Muschelmedaillons um Erkennungszeichen handelt.« Unwillkürlich fasste Lis zu ihrem Beutel mit den Eidechsenknochen. »Hast du schon einen Plan, wie wir die Kuriere befreien können?«, flüsterte sie Levin zu.
Er deutete ein Kopfschütteln an. »Ich brauche Zeit, Lis!«, flüsterte er zurück.
»Die Kuriere haben keine Zeit!«, zischte sie. »Siehst du den Mond?« Sie deutete auf die breite Sichel, die schon sehr bald ein Halbmond sein würde.
Levins Augen funkelten, Lis wurde bewusst, dass die anderen Priester sie beobachteten.
»Ich kümmere mich darum, Lis, sag du Zorans Leuten Bescheid, hörst du?«, raunte er mit einem gespielten Lachen und einer Geste, als würden sie nur über das Fest plaudern.
Lis hätte ihm gerne noch von Wits Warnung erzählt und was sie von Mokosch wusste, dass es nicht nur um das Leben des Kuriers ging, doch Levins Blick ruhte schon wieder auf Niam, der eben die Erlaubnis gab, mit dem Mahl zu beginnen. Es traf sie wie eine Ohrfeige. Sie schloss den Mund und begriff, was ihr an ihrem Bruder so fremd erschien. Eine Kluft hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Es waren nicht mehr Lis und Levin, nein, jetzt befand sie sich in einem Dreieck, zu dem Lis, Levin und Niam gehörten. Wie vor den Kopf geschlagen wandte sie sich wieder dem Treiben auf dem Hof zu.
Alle stürzten sich auf die Muschelteller, ein nach Harz duftendes Getränk wurde ausgeschenkt. Platten mit leuchtend roten, gerösteten Meeresspinnen machten die Runde. Die Leute, die nicht zum Palast gehörten, ließen sich nicht zweimal bitten, manche griffen mit beiden Händen in die Schüsseln und stopften sich heißes Fischfleisch zwischen die Zähne. Tintenfischtentakel hingen einem alten zahnlosen Mann aus dem Mund, eine Frau trank einen großen Becher in einem Zug leer und wurde mit Johlen und Rufen belohnt. Niam hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und hielt einen brotartigen Teig in der Hand, den er in eine bauchige Muschel tunkte. Sie war randvoll mit öligem Bratensaft. Fett rann ihm über das rasierte Kinn.
Gerade wollte Lis ihren Blick abwenden, als ihr eine winzige Handbewegung auffiel, die Niam in Richtung eines Kriegers machte. Der Krieger tippte dorthin, wo die Spitze seines Brustbeins sein musste, und nickte kaum merklich. Dann bewegte er sich auf eine Frau zu. Ihre Haare flogen im Takt der Musik, und auf ihrer Brust tanzte das Medaillon der Desetnica, das aus ihrem Kleid gerutscht war. Lis erstarrte. Die Frau hatte nichts bemerkt, sie war blind für den Krieger, der sich immer näher an sie heranschob.
Lis sprang so heftig auf, dass ihr Weinbecher umkippte, und ging mit schnellen Schritten zu Mokosch. Sie lächelte, als wollte sie die Fürstentochter aufheitern und zu einem Tanz oder Spiel auffordern, doch ihr Griff um den Arm der Frau war hart. »Mokosch, hör zu«, sagte sie zu ihr. »Wir müssen hier weg, gehen wir in den Palast.«
Mokosch sah sie entsetzt an.
»Lächle und nicke!«, flüsterte ihr Lis scharf zu. »Es geht um dein Leben.«
Sie staunte, wie energisch ihre Stimme klang, doch Mokosch reagierte unwillkürlich, zauberte ein verzerrtes Lächeln auf ihr Gesicht und nickte gehorsam. Lis lachte und zog sie hoch. Hand in Hand schoben sie sich durch die Menge der Tanzenden auf die Palasttür zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte Lis, wie Niam ihnen mit den Blicken folgte. Zu ihrer Überraschung beugte sich in diesem Moment Wit zu Niam und lenkte ihn offensichtlich mit einer Frage ab. Dieser Moment genügte, um in der Menge unsichtbar zu werden. Kaum waren sie im Palast, rannten sie die Treppe hinauf.
Fieberhaft überlegte Lis, ob es klug war, sich zu verstecken. Nein, entschied sie, doch wenn Mokosch ihr Medaillon im Palast wegwarf, würde man es finden. »In dein Zimmer!«, rief sie ihr zu und Mokosch nickte stumm und deutete auf einen Gang, an dessen hinterer Wand ein riesiger, fast mannshoher Kupferkrug stand. Lis erschrak, als sie einen Blick darauf warf. Eine fremde Frau starrte ihr entgegen. Schön und stolz war sie, mit hochgestecktem, etwas wirrem Haar und geheimnisvollen Augen, die von schwarzer Schminke umschattet waren. Ihr Kleid sah in dem Kupferkrug golden und königlich aus. Dann erkannte
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