Die Rückkehr der Zehnten
zugleich sehr schön und sehr traurig aus. »O ja! Ich betrachte ihn oft. In Nächten wie diesen taucht er aus dem Nebel auf. Ich nenne ihn den Turm der Piraten.«
Lis’ Herz klopfte, als wollte es zerspringen. »Es ist der Leuchtturm von Piran«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Piran, das ist eine kleine Stadt an der slowenischen Küste. Meine Mutter wartet dort auf mich, und meine Tante, mein Onkel und meine beiden Cousins leben dort.«
Matej zog die Brauen zusammen und blinzelte zum Turm, betrachtete angestrengt, als würde er nach einer lange verschütteten Erinnerung suchen, die steinerne Krone und die schmalen, spitz zulaufenden Fenster.
Sie redete wie aufgezogen weiter. »Meine Mutter ist in Piran geboren und aufgewachsen. Nun kommen wir immer in den Ferien hierher. Oben am Berg ist ein schöner alter Friedhof mit uralten Bäumen – und genau daneben ist ein Fußballplatz. Wenn sonntags ein Fußball zwischen die Gräber fällt, heben ihn die Friedhofsbesucher einfach auf und werfen ihn wieder über den Zaun. Es ist verrückt, aber irgendwie schön. Vom Haus meines Onkels aus ist man in ein paar Minuten am Meer. Die Grajska Ulica ist ganz in der Nähe des Kiesstrandes…«
»Piran«, flüsterte er wie im Traum. »In der Nähe des Strandes. Und am Strand… erhebt sich ein steinerner Berg…«
»Der Kirchberg«, sagte Lis.
»Und auf dem Berg ragt ein Turm in den Himmel… Auf seinem Dach steht ein einarmiger… Priester?«
»Ja!« Beinahe hätte sie dieses Wort herausgeschrien. »Der Campanile mit dem einarmigen Engel! Matej, du kennst die Stadt!«
Sie hielt den Atem an, als ihr eine seltsame Verbindung durch den Kopf geisterte. Matej, dachte sie – das ist die slowenische Form von Matthäus. Aber Matthäus war ein christlicher Name. Plötzlich fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen Schleier vor den Augen weggerissen. Mit einem Mal fügten sich alle Dinge, die sie über Matej wusste, zu einem Puzzle zusammen. Sie verstand, warum Zlata ihn einen Suchenden genannt hatte, warum er keine Familie hatte und was der Grund dafür war, dass er nicht so recht in diese Stadt zu passen schien. »Du bist wie ich!«, flüsterte sie und fasste ihn an den Schultern. »Du kommst nicht aus Antjana…«
Matej war blass geworden. Mit riesigen Augen sah er erst Lis an und blinzelte dann in den Nebel. Der Turm war verschwunden. »Nein!«, sagte er grob und stieß Lis von sich. »Ich kenne deine Stadt nicht! Lass mich in Ruhe!«
Schon hatte er kehrtgemacht und rannte die Treppenvorsprünge so schnell hinunter, dass Lis dachte, er würde jeden Augenblick stolpern und in die Tiefe stürzen. Sie rieb sich die Stelle an ihrem Schlüsselbein, wo seine Hand gelegen hatte, als er sie wegstieß. Noch mehr als der Schlag schmerzte die Wut und die Ablehnung, die sie in seinen Augen gesehen hatte.
Die Nachtluft kühlte die Tränen auf ihrem Gesicht. Scham brannte auf ihren Wangen, die Scham, so fortgestoßen zu werden.
Spiel und Wirklichkeit
W
as habt ihr gemacht, als die Sueben euch eingekreist hatten?«, fragte Marzana. Mokoschs ältere Schwester sah Lis gespannt an und griff nach einer in Honig getränkten Feige. Aus dem Augenwinkel bemerkte Lis, wie Mokosch sich abwandte und tief durchatmete. Der Anblick des süßen Obstes bereitete ihr Übelkeit, sie hatte alle Mühe, ihre Schwangerschaft zu verbergen.
Aber selbst wenn sie aus dem Zimmer gestürzt wäre, hätte die behäbige Marzana nichts bemerkt, dessen war sich Lis sicher. Sie konzentrierte sich am liebsten auf zwei Dinge: Süßigkeiten und Kampfgeschichten. Nur ihre mit Schwielen übersäten Hände wiesen darauf hin, dass sie gern und viel mit dem Schwert übte.
Lis seufzte und kramte in ihrem Gedächtnis nach Details, an die sie sich von Levins Rollenspielen noch erinnern konnte. »Nun, Karjan war getroffen«, erzählte sie. »Ich dachte, er würde sterben. Schon zum dritten Mal sauste das Schwert des Anführers auf ihn herab und traf ihn an der Schulter. Ich sah, wie er auf die Knie fiel. Die Sueben bildeten einen Kreis um ihn.«
Marzanas Augen waren groß. »Und du?«, fragte sie. »Hast du die Götter gerufen und ihm geholfen?«
Lis lächelte verkrampft. »Mich hatten sie niedergeschlagen, ich lag auf dem Waldboden. Gerade als ich mich wieder aufgerappelt hatte, sah ich, wie sie ihre Schwerter zum Todesstoß hoben.«
Marzana hörte auf zu kauen.
»Aber Karjan rief Swantewit an, und plötzlich, mit letzter Kraft, erhob er sich und kämpfte nur mit
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