Die Rückkehr der Zehnten
Damit drehte er sich um und folgte Wit und den Kriegern, die bereits wieder auf dem Weg zur Treppe waren.
Mokosch wandte ihr Gesicht Lis zu und wollte etwas sagen. Lis hob den Finger an die Lippen und schüttelte warnend den Kopf. »Sind die Priester immer so unhöflich und kommen ohne zu fragen in deine Gemächer?«, sagte sie. »Dieser Tschur ist ein Widerling. Ich wette, er hätte mich doch nur zu gerne ohne Kleid gesehen.« Sie schüttelte den zerknüllten Stoff. »Dieses Kleid ist so wunderschön, wie du gesagt hast, Mokosch. Darf ich es noch anprobieren, bevor wir wieder zum Fest gehen?«
»Ich schenke es dir«, sagte Mokosch tonlos.
Lis sah, wie ihre Hände, die immer noch Lis’ goldgelbes Kleid schützend an den Bauch pressten, haltlos zitterten. »Ich danke dir!«, rief Lis aus. »In meiner Heimat beherrscht niemand so schöne Stickereien. Diese Spiralen am Saum, haben sie eine bestimmte Bedeutung?« Erleichtert hörte sie ein spinnenfeines Scharren auf dem Gang, als würde sich jemand mit geübtem, sehr leisem Schritt entfernen.
Der Turm der Piraten
D
er Berg von funkelnden Medaillons lag auf dem gestampften Boden von Zorans Hütte. Schließlich nahm auch Tona ihre Silbermuschel ab, zog sie behutsam von der Kette und legte sie mit einem bedauernden Blick auf den Muschelturm. Nicht alle Medaillons waren gleich von der Form, manche waren größer, manche kleiner, einige waren dunkler oder schmaler geraten, doch alle bargen sie das Porträt der Desetnica und die eingeritzte Schrift. In dem gemauerten Winkel der Hütte heizte Borut das Schmiedefeuer an.
»Ist noch jemand hier, der ein Erkennungszeichen trägt?«
Die Mitglieder des geheimen Zirkels sahen sich um und schüttelten die Köpfe. Besorgtes Gemurmel ging durch die Reihen. Tona hatte die Fenster verschlossen. Draußen vor dem Haus saßen zwei alte Frauen und webten an einem gelben Tuch, wobei sie ein wachsames Auge auf die Umgebung hatten und die Versammlung warnen würden, sobald sie etwas Ungewöhnliches sahen.
Lis seufzte und ließ ihre Hand zu ihrem Eidechsenbeutel gleiten. Nun war es so weit. Einmal hatte sie das Medaillon verstecken können, aber ein zweites Mal? Mit schwerem Herzen wurde ihr bewusst, dass das Medaillon eines der wenigen Dinge war, die sie noch mit Piran verbanden. Außer der Kette hatte sie nur noch die Regenjacke und ihre Jeans, die sie am Morgen nach ihrer Ankunft selbst in einer der Kleidertruhen verstaut hatte.
Während sie die ledernen Schnüre des Beutels auseinander zog, wunderte sie sich, wie leicht er war. Und als sie behutsam ihre Hand hineinsenkte, um die zarten Eidechsenknochen nicht zu zerdrücken, spürte sie, woran das lag. Das Medaillon war nicht da!
Ein schreckheißer Schauder durchfuhr sie. Hatte ihr jemand das Medaillon gestohlen? Ausgeschlossen, befand sie. Sie hatte es die ganze Zeit am Gürtel getragen. Noch immer hatte sie das Festgewand an, in dem sie sich nach der Feier davongeschlichen hatte. Bald würde die Sonne aufgehen und der Palast würde erwachen. Niemand hätte den Beutel öffnen können, ohne dass sie darauf aufmerksam geworden wäre.
Prüfend tastete sie das Beutelleder ab. Nein, einen Schnitt fand sie darin auch nicht. Das Leder und die Nähte – alles war unversehrt. Das Medaillon konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Oder doch? Das Kribbeln einer Ahnung zog ihr den Nacken hinauf. Wie bei der Traumdeutung in Mokoschs Zimmer verlor auch jetzt das Zimmer seine Konturen und eine Landkarte der Ereignisse rollte sich vor Lis’ geistigem Auge ab. Die feinen Linien überspannten Raum und Zeit, verknüpften und verwirrten sich wieder, bis die Lösung immer klarer wurde. Mokoschs Medaillon, dachte sie. Ich habe die Kette zerrissen und sie ins Meer geworfen. War das etwa die Kette, die Levin Jahrhunderte später in der Nähe des Strandes gefunden hat? Dann war es dieselbe Kette, die Lis besessen hatte. Zweifach hatte sie für wenige Tage in der Zeit existiert, bis sie verschwand, als sie wieder ihren Platz am Meeresgrund fand.
Lis wurde schwindlig, sie tastete nach einem der abgesägten Baumstämme, die als Hocker dienten, und ließ sich darauf nieder. War es dann möglich, dass sie, Lis, ebenfalls zweifach in der Zeit existierte? War sie verdammt, hier zu sterben, um dann in vielen hundert Jahren mit ihrem Bruder das Erkennungszeichen der Kuriere zu finden und sich wieder im Kampf um die Desetnica zu verlieren? Oder lebte vielleicht sogar gleichzeitig eine andere, die
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