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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Lis, dass sie sich selbst im Kupferspiegel sah. Erleichtert lief sie weiter, als sie schon die schnellen Schritte auf der Treppe hörte.
    Mokosch stand keuchend im Zimmer, dessen Fenster auf das Meer hinauswiesen. »Die Wachen kommen«, jammerte sie. »Ich kann sie hören! Wir sind verloren.«
    »Nein!«, flüsterte Lis. »Noch nicht.« Sie stürzte zu Mokosch und griff der völlig perplexen Frau einfach in den Ausschnitt ihres Kleides. Ihre Hand streifte warme Haut und eine Vielzahl von verschiedenen Ketten und fand endlich die Silbermuschel.
    »Was…?«, rief Mokosch.
    Doch schon zog Lis mit aller Kraft an der Kette, die mit einem Ruck zerriss. Mokosch stieß einen Schrei aus. Die Muschel blinkte im Mondlicht auf, als sie durch die Luft flog, und zog die Kette hinter sich her wie einen Kometenschweif. Nach einer Ewigkeit, wie Lis schien, hörte sie endlich, wie das Medaillon auf dem Wasser aufkam. Gott sei Dank, sie hatte die Kette weit genug fortgeschleudert. Dabei hatte sich Levin immer über ihre mädchenhafte Wurftechnik lustig gemacht. »Wo sind deine Kleider verstaut?«, zischte sie Mokosch zu.
    Die Fürstentochter deutete auf eine Truhe an der Wand. Lis wirbelte herum, wuchtete den schweren Deckel hoch und zerrte den nächstbesten Stoff heraus. Die Schritte waren bereits am Ende des Ganges. So schnell sie konnte, löste sie den Gürtel, streifte ihr Kleid samt Fibel über den Kopf und warf es Mokosch zu, dann flog bereits die Tür auf.
    Tschur und Wit erschienen mit zwei Wächtern. Lis starrte sie entsetzt an und hielt sich Mokoschs Kleid vor den Körper. An ihren verblüfften Gesichtern konnte Lis sehen, dass sie alles erwartet hatten, nur nicht zwei Frauen, von denen eine offensichtlich dabei war, ein Kleid anzuprobieren. Sie hoffte inständig, dass Mokosch richtig reagieren würde, doch die Fürstentochter hatte schon begriffen und richtete sich auf. »Was ist los?«, fragte sie. »Wieso dringt ihr in mein Zimmer ein?« Gut gespielter Ärger schwang in ihrer Stimme mit. »Und Wit ist auch dabei«, spottete sie. »Was für eine Heldenversammlung!«
    Wit und die Krieger wandten den Blick von Lis ab und sahen zu Boden, doch Tschur ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Niam will dich sehen, Mokosch. Du warst so schnell verschwunden, dass wir befürchteten, du wärst auf der Flucht. Es sind Verräter im Palast und unter dem Volk, zwei von ihnen sitzen bereits im Priesterturm, weitere vier haben wir eben gefunden.«
    Lis dachte an die tanzende Frau und es gab ihr einen Stich. Sie war erleichtert bei dem Gedanken, dass Tona, Zoran und die anderen nicht beim Fest waren, sondern eine geheime Versammlung abhielten, wo sie zumindest für heute sicher sein würden.
    »Lass uns deinen Schmuck sehen, Mokosch«, sagte Tschur.
    Mokosch sah ihn erstaunt und verärgert an, dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen, an der mehrere Ringe glänzten. Einer hatte die Form einer Muräne, die sich in drei Windungen um ihren Mittelfinger schlang.
    »Nicht die Ringe, Mokosch. Deine Ketten. Was ist das für eine Silberkette, die du da trägst?«
    Mokosch zuckte die Schultern und zog sich alle fünf Ketten, die sie um den Hals trug, auf einmal über den Kopf. Lis, die schräg hinter ihr stand, fiel der rote Striemen an ihrem Hals auf, den die Kette, die sie ihr vom Hals gerissen hatte, auf der Haut hinterlassen hatte. Sie hoffte, Mokosch würde sich nicht umdrehen. Wit biss sich auf die Lippe und konnte ein erleichtertes Lächeln nicht unterdrücken.
    An der Silberkette hing eine rote Koralle, die die Form einer Hand hatte. Tschur sah enttäuscht aus. Dann wanderte sein Blick zu Lis. Siedendheiß fiel ihr ein, dass ihr eigenes Medaillon noch an ihrem Gürtel hing, im Beutel mit den Eidechsenknochen. Was sollte sie tun, wenn sie sie durchsuchen wollten? Sie bemerkte, wie Tschur die Augen zusammenkniff und ihren Hals musterte. Sein Blick gefiel ihr nicht. Für einen Moment befiel sie die Ahnung, dass er sie gar nicht ungern durchsuchen würde. Sie überwand den Ekel und die Wut, die in ihr aufbrandeten. Wie zufällig ließ sie den Stoff des Kleides durch ihre Finger rutschen und gab so den Blick frei auf ihre Schlüsselbeine und die Ansätze ihrer Brüste. Sofort zog sie das Kleid wieder hoch, als würde sie sich schämen. Doch Tschur hatte gesehen, dass sie kein Medaillon trug, und das schien ihm zu genügen.
    »Bleib nicht zu lange hier, Mokosch«, sagte er nun. »Der Fürst und dein Volk erwarten, dass du mit ihnen feierst.«

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