Die Rückkehr der Zehnten
besonders vorsichtig bist du nicht. Hier, zieh dieses Gewand über. Ich begleite dich.«
Er holte aus einer Ecke des Raumes eines der aus grober Wolle gewebten Überkleider und gab es ihr. Lis nahm es an, beugte sich über einen Krug mit Wasser und wusch sich den Goldstaub, so gut es ging, von den Wangen.
Sie verabschiedete sich von Tona und brach mit Matej auf.
Still lagen die Gassen in der Nacht da, nur die Gespräche der Wächter auf der Stadtmauer waren zu hören. Voller Unbehagen drehte sich Lis immer wieder um und spähte in die Nischen und Schattenluken, stets mit der mulmigen Erwartung, irgendwo Tschur lauern zu sehen. An einer Straßenbiegung sah sie einen Schatten, der sich duckte, und erschrak. Aber je weiter sie sich von Zorans Hof entfernten, desto sicherer fühlte sie sich. Der Schatten folgte ihnen nicht. Außerdem hatte sie beobachtet, dass viele Pärchen das Fest verließen und sich zur Stadtmauer oder zu den Häusern zurückzogen. Selbst wenn sie Tschur oder einem anderen Novizen begegnen sollte, hatte sie mit Matej an ihrer Seite eine gute Ausrede. Verstohlen sah sie ihn an und musste unwillkürlich lächeln.
Schweigend liefen sie durch die schlafende Stadt. Der Himmel zeigte schon eine transparente Helligkeit. Bald würde die Sonne aufgehen und die Menschen vom Fest der letzten Nacht erwachen. Dann würde Krieg sein.
»Wo gehst du hin?«, flüsterte Lis Matej zu, der den Weg verlassen hatte und sich wie ein Schatten zwischen zwei Häusern hindurchdrückte.
»Zur Stadtmauer. Ich will die Sarazenenschiffe sehen, von denen Borut erzählt hat.«
»Zum Aussichtspunkt auf der Stadtmauer geht es dort entlang.«
Er schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen. »Komm mit, ich zeige dir meinen Weg«, sagte er und winkte ihr, ihm zu folgen. Er führte sie durch einen kleinen Garten, der steil anstieg, bis sie zu einer verborgenen, grob aus eckigen Steinen aufgetürmten Treppe kamen, die steil in die Höhe führte. Lis blickte sich um, doch es war niemand zu sehen. Mühsam kletterte sie die Treppe hoch. Als Matej sah, dass sie mit ihrem Kleid Schwierigkeiten hatte hinaufzukommen, zog er einen Mundwinkel hoch und streckte ihr die Hand hin. Lis ergriff sie.
Gemeinsam standen sie auf einem schmalen Stück Mauer. Kein Wächter war weit und breit zu sehen. Schräg rechts erkannte Lis eine Landzunge, doch sie wusste nicht, ob es das Stück Land war, auf dem in vielen Jahrhunderten das Städtchen Piran liegen würde. Links von ihr öffnete sich eine spiegelglatte Bucht. Heller Nebel waberte über das Wasser. Ein kühler Wind strich ihr um die Knöchel und Schultern und ließ sie frösteln.
Matej spähte in die Bucht und deutete auf einen schmalen schwarzen Streifen am Horizont. Lichter schienen vereinzelt aufzublinken. »Da sind sie«, flüsterte er. »Die Flotte hat in der Bucht angelegt und die Nachhut mit den Pferden ist an Land. Wenn der Wind günstig steht, hören wir das Wiehern in der Nacht.«
»Warum greifen sie nicht an?«, wisperte Lis.
»Vielleicht werden sie es heute Nacht tun. Der Ausgang der Schlacht ist mehr als ungewiss, das ist ihnen bewusst. Antjana ist eine Festung, sie müssten erst einen Weg hinein finden. An den Stadtmauern werden sie abprallen.«
»Die Kuriere im Turm haben eine Botschaft der Desetnica«, sagte Lis. »Ich muss zu Le… Karjan. Nur er kann uns helfen.«
Matej zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Meinst du? Zoran ist sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, Karjan zu Niam gehen zu lassen.«
Sie schwieg und wandte sich ab. Matej sollte nicht sehen, dass sie bedrückt und voller Zweifel war. Nachdenklich starrte sie auf den Nebel, der an der Burgmauer verwehte.
Nach einer Weile musste sie blinzeln, denn das diesige Licht spielte ihr einen Streich. Schemen und Formen schälten sich aus dem Nebel heraus, verfestigten sich, blendeten sie mit der Form einer zackigen Steinkrone. Sie hielt sich mit beiden Händen an der Mauer fest, um nicht zu schwanken: Vor ihr erhob sich der Leuchtturm von Piran, dessen Sockel wie eine Fata Morgana im Nebel verschwand. Beinahe hätte sie vor Erleichterung geweint. Piran existierte noch, in einer anderen Zeit, doch greifbar nah!
»Er ist schön, nicht wahr?«, sagte Matej neben ihr.
Lis fuhr herum. »Was meinst du?«
Er deutete auf das helle Bauwerk. »Dort, den Turm.«
»Dann siehst du ihn auch?«, flüsterte sie.
Matej lächelte. Der zunehmende Mond verlieh seinem Gesicht einen unirdischen Glanz. Er sah
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