Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Inneren Aufzeichnungen.«
»Was ist denn das?«
»Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Man könnte die Inneren Aufzeichnungen als das ›Universelle Unbewußte‹ oder ›Tagebuch des Geistes‹ bezeichnen. Dort wird alles festgehalten.«
»Alles?«
»Ja«, antwortete sie. »Alles.«
»Kannst du … diese Aufzeichnungen lesen?«
»Manchmal – es kommt darauf an.«
»Und wie konnte ich sie dann lesen?«
»Na ja, sagen wir, ich habe die Seiten für dich umgeblättert.«
»Wie eine Mutter, die ihrem Kind etwas vorliest?«
»So ähnlich.«
Der Regen ließ nach, und wir gingen hinaus. Mama Chia führte mich zu einem Holzklotz in der Nähe des Schuppens, und ich setzte mich hin. »Mama Chia«, sagte ich. »Ich muß mit dir über etwas reden, was mich allmählich wirklich nervös macht. Und je mehr ich lerne, desto schlimmer scheint es zu werden. Verstehst du …«
Sie schnitt mir das Wort ab. »Kümmere dich einfach nur um das, was jetzt im Augenblick vor dir liegt. Denk nicht an die Zukunft – die ergibt sich ganz von selbst. Sonst besteht die Gefahr, daß du den größten Teil deines Lebens damit verbringst, darüber nachzudenken,
mit welchem Fuß du zuerst über die Straße gehen willst – obwohl du die Kreuzung noch gar nicht erreicht hast.«
»Soll man denn gar nichts vorausplanen? Muß man sich nicht auf die Zukunft vorbereiten?«
»Pläne zu machen ist durchaus sinnvoll, aber klammere dich nicht an sie; dazu hält das Leben zu viele Überraschungen bereit. Vorbereitungen haben immer einen Wert – selbst wenn die Zukunft, wie du sie dir in deinen Plänen zurechtgelegt hast, nie eintrifft.«
»Wieso?«
Sie schwieg ein paar Sekunden; dann antwortete sie: »Ein alter Freund von mir hier auf der Insel, Sei Fujimoto – du kennst ihn noch nicht –, arbeitete den größten Teil seines Lebens als Gärtner und half in der Nachbarschaft als Handwerker aus. Aber seine große Leidenschaft war die Fotografie. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, den Bilder auf Papier so sehr faszinierten! Früher verbrachte er seine Zeit hauptsächlich damit, nach schönen Fotomotiven zu suchen. Fuji liebte vor allem Landschaften: die verschiedenen Formen von Bäumen, Wellen, auf deren Gischt das Sonnenlicht funkelte, und Wolken im Licht des Mondes oder der Morgensonne. Wenn er nicht gerade fotografierte, stand er zu Hause in der Dunkelkammer und entwickelte seine Bilder.
Fuji fotografierte fast dreißig Jahre lang, und in dieser Zeit sammelte sich ein großer Schatz phantastischer Fotos an. Er bewahrte die Negative in einem verschlossenen Aktenschrank in seinem Büro auf. Ein paar Fotos verkaufte er; andere schenkte er Freunden.
Vor etwa sechs Jahren brach in dem Büro ein Feuer aus. Alle Fotos, die er in den letzten dreißig Jahren gemacht hatte, alle Negative und der größte Teil seiner Fotoausrüstung fielen den Flammen zum Opfer. Und er hatte keine Feuerversicherung! Die ganzen Beweise und Früchte jahrzehntelanger kreativer Arbeit – unwiederbringlich verloren.
Fuji trauerte um seine Bilder, wie man den Tod eines Kindes betrauert. Drei Jahre davor hatte er tatsächlich einmal ein Kind verloren. Er begriff jetzt, daß Leiden etwas Relatives ist: Wenn es ihm
gelungen war, den Tod seines Kindes zu überwinden, dann konnte er alles überwinden.
Aber das war noch nicht alles. Er verstand jetzt die größeren Zusammenhänge. In ihm wuchs die Erkenntnis, daß ihm etwas sehr Wertvolles geblieben war, was die Flammen nicht zerstören konnten: Fuji hatte durch das Fotogra fieren gelernt, das Leben mit anderen Augen zu sehen. Jeden Morgen, wenn er aufstand, sah er eine Welt aus Licht und Schatten, aus verschiedenen Formen und Oberflächenstrukturen – eine Welt der Schönheit und des harmonischen Gleichgewichts.
Als er mir das anvertraute, war er so glücklich, Dan! In dieser Erkenntnis spiegelt sich die Einsicht der Zenmeister wider, die ihren Schülern einschärfen, daß alle Wege, alle Aktivitäten – Beruf, Sport, Kunst, Handwerk – nur Mittel zum Zweck unserer inneren Entwicklung sind, nur ein Boot, das man braucht, um über den Fluß zu kommen. Wenn du am anderen Ufer angelangt bist, brauchst du das Boot nicht mehr.« Mama Chia holte tief Luft und lächelte mich mit heiterer Gelassenheit an.
»Ich würde Sei Fujimoto gern kennenlernen.«
»Das wirst du auch«, versprach sie.
»Mir ist gerade etwas eingefallen, was Socrates mir einmal erklärt hat: ›Es ist nicht der Weg zum friedvollen
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