Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
vielleicht ohnehin schon zu spät dazu gewesen; dem Jungen ging es nicht gut.« Mama Chia blieb stehen, setzte sich auf einem Felsvorsprung nieder und forderte mich mit einer Handbewegung auf, das gleiche zu tun. Traurig berichtete sie: »Ich tat alles, was ich wußte und konnte, um diesem Kind zu helfen. Ich setzte meine ganze Energie und Willenskraft ein. Ich betete, ich flüsterte dem Kind ins Ohr, ich rief seinen Namen. Aber es ist trotzdem gestorben.« Mama Chia stiegen Tränen in die Augen.
Dann sah sie mich an. »Es gibt wenige Dinge auf der Welt, die schmerzlicher sind als der Verlust eines Kindes«, sagte sie. »Weder Glaube noch Philosophie können ein blutendes Herz heilen. Nur die Zeit kamm uns helfen zu vergessen. Und die Fujimotos trauerten sehr lange um ihr Kind.
Der kleine Junge war in meinen Armen gestorben. Und auch in mir starb damals etwas. Ich sah ihn hinterher noch oft in meinen Träumen. Anfangs glaubte ich, ich hätte ihn vielleicht retten können, wenn ich nur noch mehr gelernt, noch mehr gewußt hätte. Dann litt ich unter der fixen Idee, daß es vielleicht nicht meine Bestimmung war, andere zu heilen. Von diesem Gedanken war ich wie
besessen – und trotz der Proteste der Menschen, denen ich geholfen hatte, und dem mitfühlenden Dank der Fujimotos für meine Bemühungen um ihr Kind schwor ich mir, nie wieder zu heilen. Es schien ja doch alles nur Schwindel zu sein. Ich kam mir vor wie eine Scharlatanin. Ich hatte den Glauben an mich und den Geist verloren.
Das war 1965. Dann zog ich nach Oahu und begann bei einer Bank zu arbeiten. Allmählich nahm ich wieder zu.«
»Hat dir das denn nichts ausgemacht?« fragte ich. »Ich meine, nach allem, was du in dieser Schule gelernt und wie fit du dich dort gefühlt hast … Wolltest du nicht wieder in Form kommen?«
»Jeder hat seine Stärken und Schwächen«, erinnerte Mama Chia mich. »Ich neige manchmal dazu, mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen, so wie damals in der Zeit, als ich bei der Bank angestellt war. Ich hatte einfach kein Interesse oder sah keinen ausreichenden Grund, mich zu ändern. Ich verfiel in eine traurige, aber beruhigende Routine, verrichtete mechanisch meine Arbeit, setzte ein Lächeln auf und war nur noch ein zweiteiliges Kostüm hinter einem Schalter. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, weiß ich, daß es die Hölle war. Aber schließlich hatte ich mir diesen Ort und diese Arbeit ja selbst ausgesucht. Das ging fast zwei Jahre lang so – bis ich vor sechs Jahren einen Brief von Socrates bekam.«
»Also 1967«, sagte ich.
»Ja. Ich weiß nicht, wie er mich ausfindig gemacht hat oder warum er mir gerade damals schrieb. Wir hatten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Aber sein Brief war wunderbar. Seine Worte erinnerten mich an Dinge, die ich vergessen hatte. Sie schenkten mir Kraft, inspirierten mich und gaben meinem Leben wieder einen Sinn.«
»Ja, das kann er gut.« Ich lächelte.
»Ja«, wiederholte sie und lächelte zurück. »Das kann er sehr gut. In diesem Brief schrieb er auch über dich – daß du mich vielleicht eines Tages aufspüren würdest. Ich kehrte nach Molokai zurück, und seitdem tue ich endlich die Arbeit, für die ich geboren bin. Innerlich habe ich immer nach dir Ausschau gehalten.«
»Und den Rest der Geschichte kenne ich ja«, lächelte ich.
»Nicht ganz«, widersprach Mama Chia. »Vor etwa drei Wochen«, verkündete sie mit strahlendem Lächeln, »habe ich nämlich geholfen, Mitsu und Sei Fujimotos neugeborenen Sohn auf die Welt zu bringen!«
»Das ist ja wunderbar!« rief ich. »Ich liebe Happy-Ends!«
Mama Chia blieb stehen, lehnte sich an einen Baumstamm und ruhte sich aus. Dann erstarb ihr Lächeln, und sie sagte: »Ich hoffe, wenn das Ende deiner Geschichte kommt, wirst du auch so glücklich sein.«
10
AUF DEM PFAD DER EINWEIHUNG
Denke nicht darüber nach, was dir Spaß macht oder keinen Spaß
macht; denn das spielt keine Rolle. Tue einfach, was getan werden
muß. Das ist vielleicht kein Glück – aber es ist innere Größe.
GEORGE BERNARD SHAW
Vom frühen Nachmittag an ging es endlich nicht mehr so steil bergab. Jetzt hatten wir nur noch ein leichtes Gefälle zu bewältigen. Wir wanderten direkt über den Bergrücken; der steinige Weg war inzwischen nur noch so breit wie ein Schwebebalken. Er bot keinen Spielraum für einen falschen Tritt.
Vorsichtig tasteten wir uns an dem gefährlichen Grat entlang. Ein Gespräch war völlig
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