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Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Titel: Die Rückkehr des friedvollen Kriegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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und nahm den kleinen Vogel
in die Hand. »Es geht um Leben und Tod.« Plötzlich umklammerte sie den Vogel fest mit den Fingern und drückte ihn, bis er schlaff und leblos in ihrer Hand lag.
    »Wie konntest du das tun …?«, stammelte ich entsetzt und ungläubig.
    »Und es geht auch um Tod und Leben«, fiel sie mir ins Wort und warf den kleinen Vogel in die Luft. Er breitete die Flügel aus, flog auf einen Baum und begann wunderschön zu singen. Offensichtlich hatte er keinen Schaden genommen, und auch der plötzlich einsetzende Nieselregen machte ihm nichts aus.
    Der Regen würde sicherlich bald vorbei sein, aber wie sollte ich dieses leise innere Schaudern wieder loswerden? fragte ich mich, während Mama Chia sich zum Schlafen niederlegte und sich zusammenrollte wie eine Bärin, eine Kreatur des Waldes.
    Ich lag eine Viertelstunde lang mit geschlossenen Augen da, konnte aber nicht schlafen; ich war zu gespannt, was wohl als nächstes kommen würde. »Wir werden wohl noch ein paar Tage unterwegs sein, hm?« fragte ich Mama Chia.
    »Sieht so aus«, antwortete sie, ohne sich zu rühren.
    »Halte ich dich denn nicht von … deiner Arbeit bei den anderen Menschen ab, denen du helfen mußt?«
    Sie drehte sich mit einer anmutigen Bewegung zu mir um und sah mir in die Augen. »Na ja, sagen wir, ich habe mir ein paar Tage freigenommen, um mich um einen besonderen Notfall zu kümmern.«
    »Und was für ein Notfall ist das?«
    »Du«, antwortete sie, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann richtete sie sich auf, und ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Damit sind wir beim Thema: nämlich bei der Frage, wo wir uns im Augenblick befinden.«
    »Und wo befinden wir uns?«
    »In Kalanikaula, einem heiligen Kukui-Hain.«
    »Heilig?« wiederholte ich, setzte mich auf und sah mich um.
    »Ja. Spürst du es?«
    Ich blickte zu der grauen Rinde, den hellgrünen Blättern und weißen Blüten der schönen Bäume empor. Dann schloß ich die Augen,
und mir wurde klar, daß die Schönheit dieses Ortes nicht so sehr in seiner äußeren Erscheinung lag, sondern in seiner Atmosphäre . »Ja«, antwortete ich. »Ich spüre es. Aber warum haben wir diesen weiten Weg hierher gemacht?«
    »Um in eine heilige Lehre eingeweiht zu werden, muß man an einen heiligen Ort gehen.« Abrupt stand sie auf. »Komm. Es wird gleich dunkel.« Sie tilgte alle ihre Spuren, wandte sich um und wanderte in den Wald hinein. Rasch erhob ich mich und folgte ihrem Beispiel.
    »Willst du mir nicht sagen, was das alles zu bedeuten hat?« fragte ich und gab mir Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
    »Wenn wir dort sind«, rief sie zurück.
    »Wo?«
    Obwohl der Wald ihre Stimme dämpfte, konnte ich ihre Antwort deutlich hören: »Auf dem Friedhof.«
    »Was – wir gehen auf einen Friedhof? Heute nacht? Jetzt?« Mir sträubten sich die Nackenhaare – eine eindeutige Botschaft von meinem Basis-Selbst, daß mir irgend etwas Unangenehmes bevorstand. Wie lautete doch gleich dieses alte Sprichwort? »Das Licht am Ende des Tunnels ist vielleicht ein entgegenkommender Zug.«

11
DER SIEBENSTÖCKIGE TURM DES LEBENS
    Symbolisch betrachtet, war der Turm also ursprünglich als Vermittler
zwischen Geist und Materie gedacht … Die Götter müssen einen Weg
finden, ihn zu betreten – wenn es sein muß, auch mit Gewalt.
     
    SALLIE NICHOLS, ›Die Psychologie des Tarot‹
     
     
    Mama Chia war schon fünfzig Meter vor mir. Ich begann zu laufen, um in ihrer Nähe zu bleiben. Als wir den Kukui-Hain hinter uns ließen und über den schmalen Grat zum Friedhof wanderten, veränderte der Wald plötzlich sein Gesicht. So weit das Auge reichte, waren im silbernen Schimmer des Halbmondes über uns kilometerweit nur verdorrte Bäume zu sehen – ein Wald, der einst aus den stolzen Ohi’a- und den schönen Koa -Bäumen bestanden hatte, aber jetzt nur noch kahle Skelette aufwies, die die Berge rund um das Wallau Valley entstellten. »Um die Jäger zu befriedigen, für die Töten ein Sport ist, hat man Rehe hier ausgesetzt«, erklärte Mama Chia. »Die Rehe haben die Sämlinge gefressen, so daß keine jungen Bäume mehr nachwachsen konnten. Und die meisten älteren Bäume sterben an der Trockenfäule oder werden von Gräsern und Schlingpflanzen erstickt.«
    Wir wanderten weiter bergauf über den Grat und dann wieder den Berg hinunter, vorbei an knorrigen Baumveteranen und den Knochengerüsten sterbender Bäume, die vom Mond gespenstisch erhellt wurden.
    Dann begann Mama Chia

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