Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Aber sie erzählen nie jemandem etwas davon, weil sie ihre Erlebnisse für zu gewöhnlich halten.«
Traurig schüttelte ich den Kopf und setzte hinzu: »Auch Socrates war mir wichtig, und ich habe ihn so oft gebeten, mir von seiner Vergangenheit zu erzählen – aber es war nie etwas aus ihm herauszubekommen. Es kam mir vor, als hätte er irgendwie kein Vertrauen zu mir – ich weiß auch nicht. Das verletzte mich, aber ich habe es ihm nie gesagt. Vielleicht werde ich nie erfahren, wo er eigentlich herkam – und das ist so, als fehlte mir ein Teil meines eigenen Lebens.«
Schweigend nickte sie zu meinen Worten. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts – doch als sie auf das blaue Meer hinausblickte, sah ich Tränen in ihren Augen schimmern. Über uns zogen Wolken dahin und berührten die Gipfel der Berge. Mama Chia umgriff ihren Stock wieder fester und wanderte nun einen verschlungenen Bergpfad hinauf. Ich folgte ihr, und sie nahm den Faden ihrer Geschichte wieder auf.
»Wie viele Männer in Honolulu erlebte Bradford die Zerstörung von Pearl Harbor fassungslos mit, und als guter Stanford-Student trat er in die Marine ein, um bei der Verteidigung unseres Landes mitzuhelfen. Wie unzählige andere Frauen sprach ich jeden Abend und jeden Morgen ein Gebet für meinen Mann.
Dann kamen häßliche Gerüchte auf, daß japanische Amerikaner auf dem Festland in Internierungslager geschickt wurden, weil die amerikanische Regierung Angst vor Sabotage hatte. Anfangs glaubte ich das nicht; ich konnte es einfach nicht glauben. Aber es stimmte. Obwohl ich nur halb japanischer Abstammung bin, zog ich mich in diesen abgelegenen Teil des Regenwaldes zurück und lebte hier einsam und zurückgezogen mit meiner Mutter, die inzwischen über
Sechzig war und an verschiedenen Krankheiten litt, die ich nicht lindern konnte.
Da kehrte Papa Kahili, der inzwischen fast zehn Jahre in Afrika gelebt hatte und dort bei einem Schamanen in die Lehre gegangen war, nach Molokai zurück. Ich bat ihn, meiner Mutter zu helfen. Aber er war schon sehr alt, und seine Arbeit in Afrika im Kampf gegen Hungersnot, Ruhr und unzählige andere Leiden hatte ihn sehr mitgenommen. Er erklärte mir, der Geist rufe meine Mutter zu sich nach Hause, und sie werde bald glücklich von ihrem schmerzenden Körper befreit sein. Er selber werde auch nicht mehr lange leben, fügte er hinzu.
Dann sprach er mit meiner Mutter und gab ihr Ratschläge. Eine Woche nach seiner Rückkehr starb sie friedlich im Schlaf. Von nun an war ich allein und half Papa Kahili jeden Tag bei seiner Arbeit. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und bat ihn, mich in die Kahuna -Heilmethoden einzuweihen; ich erklärte ihm, daß ich mich zum Heilen berufen fühlte.
Da begann der alte Mann zu weinen, denn er hatte das schon immer gewußt – all die Jahre –, aber er hatte warten müssen, bis ich ihn darum bat. Also nahm er mich in seine Familie auf und weihte mich in die Kahuna -Traditionen ein.
Papa Kahili lebt jetzt in der Geisterwelt; aber ich spüre, daß er immer bei mir ist. So ist das, wenn man einen Lehrer gefunden hat. Er hat mir die Werkzeuge in die Hand gegeben, die ich brauchte, um anderen Menschen zu helfen.
Ich begann seinen Patienten hier auf Molokai zu helfen, und nebenbei ließ ich mich auch noch zur Hebamme ausbilden. Während meines Medizinstudiums hatte ich genug Menschen sterben sehen. Das wollte ich jetzt ausgleichen, indem ich nun kleinen Babys auf die Welt half. Auf diese Weise konnte ich am Wunder der Geburt teilhaben, auch wenn es nicht meine eigenen Babys waren.
Eines Tages bekam ich einen Brief vom Marineministerium. Noch ehe ich ihn geöffnet hatte, wußte ich, was in ihm stand – Wort für Wort. Ich weinte. Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, riß ich den Brief mit zitternden Fingern auf. Er bestätigte mir, was ich schon
seit Tagen immer wieder geträumt hatte: Bradford, mein Mann, war auf See geblieben.
Der Krieg ging zu Ende, und ich wurde allmählich unruhig. Zu viele Geister umschwebten mich inzwischen, zu viele Erinnerungen. Ich hatte genug Geld gespart; also beschloß ich 1952 …«
»Als ich gerade sechs Jahre alt war«, warf ich ein.
»Ja – als du sechs Jahre alt warst, ging ich auf eine zwölfjährige Weltreise. Ich orientierte mich an keiner Landkarte, nur an meiner Intuition. In den ersten zwei Jahren reiste ich quer durch die Vereinigten Staaten – mit dem Bus, im Zug und zu Fuß – und besuchte Menschen und Orte, zu
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