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Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Titel: Die Rückkehr des friedvollen Kriegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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Steckt da irgendein Geheimnis dahinter?«
    »Ich will es etwas anders ausdrücken«, antwortete sie. »Du weißt doch, daß eine Mutter ganz selbstverständlich nachts immer wieder aufsteht, wenn ihr krankes Kind nach ihr ruft – auch wenn sie noch so müde ist?«
    »Ja, ich weiß.«
    »So geht es mir auch mit dir«, sagte sie. Ich spürte, daß sie lächelte, obwohl ich es nicht sehen konnte.

    Sie gab weiterhin das Tempo an, und ich folgte ihr – Anhöhen hinauf und wieder hinunter, vorbei an vielen kleinen Wasserfällen, die von dem Regenwasser gespeist wurden, das auf diesem Teil der Insel ständig von den Bergen herunterfloß – und dann noch etliche Kilometer weiter durch den Wald. Hin und wieder rutschte ich auf moosbewachsenen Steinen aus.
    Als wir wieder eine Anhöhe hinaufstiegen und dann ins Halawa Valley kamen, fühlte ich mich plötzlich auf unerklärliche Weise erfrischt. Dieses Gefühl innerer Kraft wurde immer intensiver, je weiter wir ins Tal hinunterwanderten. Schließlich kamen wir zu einer kleinen Lichtung, die verborgen hinter dichtstehenden Bäumen dalag.
    Die letzten Strahlen der Sonne, die inzwischen schon tief am Horizont stand, zwängten sich durch das dichte Laub und zauberten ein Muster aus Lichtbändern auf all das Grün. »Mach es dir bequem«, forderte Mama Chia mich auf.
    Dankbar setzte ich mich auf einem weichen Blätterteppich nieder, der nur leicht feucht war, und ließ ihren Rucksack auf den Waldboden fallen. Sie blieb neben einem Kukui-Baum stehen und blickte ins Leere.
    Als ich mich auf meinem Lager aus Laub zurücklehnte und durch ein Gewirr von Zweigen zum Himmel emporblickte, hörte ich Mama Chias Stimme. »Dan«, sagte sie langsam, »erinnerst du dich noch daran, was ich dir einmal erzählt habe – wie es ist, wenn man seine Form verändert?«
    »Hmm, eigentlich hast du mir nicht viel darüber verraten …« Das laute Zwitschern eines Vogels riß mich aus meinen Überlegungen. Rasch wandte ich mich zu Mama Chia um. Aber sie war verschwunden, und an ihrer Stelle – genau dort, wo sie gesessen hatte  – hockte jetzt auf einem niedrigen Zweig ein Vogel und starrte ins Leere.
    Der Vogel saß ganz still da, als wartete er auf etwas. »Das kann doch nicht sein!« rief ich laut. »Du hast dich doch nicht etwa …«
    Der Vogel blickte mich unverwandt an. Ich erwiderte seinen Blick und wartete auf irgendein Zeichen. Da lugte hinter dem Baumstamm
Mama Chias grinsendes Gesicht hervor. Als sie sah, wie ich sie mit offenem Mund anstarrte, begann sie schallend zu lachen. »Schade, daß ich keine Kamera dabeihabe, Dan. Dein Gesichtsausdruck gerade eben war unbezahlbar!«
    Sie trat einen Schritt vor und zwinkerte dem Vogel zu; er setzte sich auf ihre Schulter. »Du hast also gedacht, ich hätte mich in einen Vogel verwandelt«, sagte sie. »Ich glaube, du hast zuviel Carlos Castaneda gelesen!«
    »Warum? Ich habe schon merkwürdigere Dinge erlebt«, verteidigte ich mich.
    »›Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde … als ihr euch in euren Philosophien träumen laßt‹«, zitierte sie William Shakespeare. »Ja, Dan, es gibt viele ganz alltägliche Wunder, die die meisten Menschen gar nicht bemerken. Aber kein Mensch kann sich körperlich in einen kleinen Vogel verwandeln. Formveränderung hat etwas mit Bewußtseinsübertragung zu tun – es ist eine Art tiefer Einfühlung in ein anderes Wesen. Nicht mehr und nicht weniger.«
    Sie streichelte den kleinen Vogel und glättete seine blutrote Brust und seine weißen Federn. Er zwitscherte vergnügt. »Das ist ein Apapane. Er ist so eine Art Schoßtier von mir und fliegt mir manchmal nach«, erklärte sie und berührte seinen gebogenen Schnabel. »Ich nenne ihn ›Redbird‹.«
    »Ist er zahm?« fragte ich, nachdem ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte. »Kann ich ihn auch in die Hand nehmen?«
    »Das weiß ich nicht. Da mußt du ihn schon selber fragen.«
    »Und wie soll ich das machen – in der Vogelsprache pfeifen?«
    Mama Chia wechselte einen Blick mit dem Vogel. Er rollte die Augen, als wollte er fragen: »Wer ist denn das ?«
    Langsam streckte ich die Hand aus, und der halbzahme Apapane ließ mich seinen Bauch streicheln.
    »Das war ein schlauer Trick von dir, das muß ich zugeben. Du hast mich ganz schön an der Nase herumgeführt.«
    Da verdüsterte sich Mama Chias Gesicht wie der Himmel über uns, und sie erhob sich wieder. »Was wir heute abend vorhaben, hat nichts mit ›Tricks‹ zu tun«, erklärte sie

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