Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
gewöhnt war, staunte ich. Ich atmete tief ein, drehte mich langsam um und sah Mama Chia ganz in meiner Nähe ruhig dasitzen. Sie hatte die Augen geschlossen.
Endlich fand ich wieder Worte. »Ich weiß zwar nicht, was du mit mir angestellt hast, aber jetzt … Jetzt verstehe ich das mit dem Turm.«
»Nein, du verstehst es nicht – noch nicht«, widersprach sie und schlug die Augen auf. »Aber du wirst es bald begreifen.« Sie klappte das Notizbuch zu, stand auf und ging den Weg hinunter. Hastig sprang ich auf, griff nach ihrem Rucksack und folgte ihr.
»Was soll das heißen – ›noch nicht‹?« rief ich ihr nach.
Ihre Antwort ging in dem plötzlichen Heulen des Windes beinahe unter. »Ehe du das Licht sehen kannst, mußt du dich erst einmal mit der Dunkelheit auseinandersetzen.«
12
IN DEN KLAUEN DER ANGST
Die bevorstehende Hinrichtung macht erfinderisch.
SAMUEL JOHNSON
»Lauf doch nicht so schnell! Warum hast du es denn so eilig?« rief ich, während ich hinter ihr den mondbeschienenen Weg entlangtrottete. »Warte doch!« rief ich wieder. »Wo gehen wir denn hin? Was sollen wir hier überhaupt?«
»Das wirst du gleich erfahren, wenn wir da sind«, sagte Mama Chia. Ihre Stimme klang düster, und ihre Antwort beruhigte mich nicht sehr. Immer wieder Schlingpflanzen und Büschen ausweichend, folgte ich ihr, so gut ich konnte.
Vor Jahren, als Turner, war die Angst so etwas wie ein freundschaftlicher Gegner für mich gewesen. Fast jeden Tag hatte ich mich an gefährliche Übungen herangewagt – Überschläge, Rückwärtssaltos, Schrauben am Hochbarren oder auf dem Trampolin. Diese Angst hatte ich stets gut im Griff gehabt, denn ich wußte genau, wovor ich mich fürchtete, und hatte die Situation unter Kontrolle. Doch nun breitete sich mit Eiseskälte eine diffuse Panik in meiner Brust und meinem Bauch aus – und wie ich mit dieser Angst fertig werden sollte, wußte ich nicht. Es war wie bei meiner ersten Achterbahnfahrt als kleiner Junge, als wir ratternd und in atemberaubendem Tempo das steile Looping hinauffuhren, wo es kein Zurück mehr gab und das Kichern in gellende Schreie überging. Alles stürzte in sich zusammen, und meine Nerven schienen zu zerreißen.
Mama Chias Stimme klang so eindringlich, wie ich sie noch nie gehört hatte. »Komm mit – dort hinüber!« befahl sie und schlug
abrupt eine andere Richtung ein. Während wir bergab gingen und dem Begräbnisplatz immer näher kamen, überstürzten sich die Gedanken in meinem Kopf. Was hatte ein Friedhof mit diesem Turm zu tun? Eine düstere Vorahnung stieg in mir auf. Ich kämpfte gegen den Impuls an, einfach davonzulaufen.
»Tritt genau in meine Fußstapfen«, sagte Mama Chia. In der schwülen, feuchten Luft klang ihre Stimme eigentümlich gedämpft. »Weiche nicht von meinem Weg ab. Hast du mich verstanden?« Wir betraten eine Lichtung. Vor uns standen Grabsteine, und mein Magen krampfte sich zusammen.
»Was hat denn das für einen Sinn?« fragte ich. »Ich … ich dachte, du wolltest mir die drei Selbste erklären.«
Mama Chia holte tief Luft, drehte sich zu mir um und bedeutete mir mit finsterem Gesicht, ihr weiter zu folgen. Eine neue Welle der Angst stieg in mir auf. Ich war zwar schon öfter auf Friedhöfen gewesen, konnte mich aber nicht daran erinnern, dort jemals so eine panische Angst empfunden zu haben. Mein Basis-Selbst war wie erstarrt, und mein ganzer Körper fühlte sich wie taub an, als wir über die alte Begräbnisstätte wanderten. »Ich glaube, das schaffe ich nicht«, wollte ich zu Mama Chia sagen, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Und dabei wußte ich nicht einmal, was mir eigentlich solche Angst einjagte. Aber meinem Basis-Selbst war es offenbar klar.
Obwohl es eine warme Nacht war, klapperten meine Zähne, als ich auf dem schmalen Weg, der über den Friedhof führte, hinter Mama Chia hertrottete. Einige Grabsteine standen gerade, andere waren leicht geneigt. Behutsam, auf Zehenspitzen schlich ich über die Gräber. Neben einer leeren Grabfläche blieb Mama Chia stehen und wandte sich mir zu.
»Wir sind hier, um der Dunkelheit des ersten Stockwerks ins Auge zu sehen«, sagte sie, »dem Reich des Überlebenskampfes, der Isolation und der Angst. Das hier ist ein heiliger Ort, er ist vor den Blicken Außenstehender geschützt. Hier liegen nur Kahunas begraben. Spürst du, welche Macht von diesem Ort ausgeht?«
»J… ja«, stammelte ich.
»Lanikaula, der Wächter, ist jetzt bei uns –
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