Die Rückkehr des Sherlock Holmes
größten Vergnügen verbrannt hätte. Die Diagramme, der Geigenkasten und der Pfeifenständer – selbst der persische Pantoffel, der den Tabak beherbergte – alles fiel mir in die Augen, als ich mich umblickte. Zwei Bewohner befanden sich in dem Zimmer: einmal Mrs. Hudson, die uns beim Eintreten freudestrahlend ansah – zum andern die seltsame Attrappe, die bei den Abenteuern dieses Abends eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Es war ein wachsfarbenes Modell meines Freundes, so vortrefflich gearbeitet, daß es ein vollkommenes Abbild darstellte. Es stand auf einem kleinen Sockeltisch und war mit einem alten Morgenmantel von Holmes so drapiert, daß die Täuschung von der Straße aus absolut perfekt war.
»Ich hoffe, Sie haben alle Vorsichtsmaßregeln beachtet, Mrs. Hudson?« sagte Holmes.
»Ich bin auf den Knien hingekrochen, Sir, genau wie Sie mir gesagt haben.«
»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Haben Sie beobachtet, wo die Kugel eingeschlagen ist?«
»Ja, Sir. Ich fürchte, sie hat Ihre schöne Büste ruiniert, denn sie ging mitten durch den Kopf und schlug sich dann an der Wand platt. Ich habe sie vom Teppich aufgelesen. Hier ist sie!«
Holmes hielt sie mir hin. »Eine weiche Revolverkugel, wie Sie sehen, Watson. Das zeugt von Talent, denn wer erwartet schon, dergleichen aus einem Luftgewehr abgeschossen zu sehen? Sehr schön, Mrs. Hudson. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr verpflichtet. Und nun, Watson, seien Sie so gut und setzen sich noch einmal in Ihren alten Sessel, denn da sind mehrere Punkte, die ich mit Ihnen erörtern möchte.«
Er hatte den schäbigen Gehrock abgeworfen und war nun wieder ganz der alte Holmes im mausfarbenen Morgenmantel, den er seinem Ebenbild ausgezogen hatte.
»Die Nerven des alten
shikari
haben ihre Ruhe nicht verloren, und seine Augen nicht ihre Schärfe«, sagte er lachend, als er die zerschmetterte Stirn seiner Büste untersuchte.
»Genau mitten in den Hinterkopf und geradewegs durchs Gehirn. Er war der beste Schütze Indiens, und ich nehme an, in London gibt’s kaum bessere. Haben Sie seinen Namen schon einmal gehört?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Nun, nun, so geht’s mit dem Ruhm! Andererseits aber hatten Sie, wenn ich mich recht erinnere, den Namen von Professor Moriarty auch noch nie gehört, und der war einer der größten Köpfe unseres Jahrhunderts. Reichen Sie mir doch bitte einmal das Biographienverzeichnis aus dem Regal.«
Er blätterte müßig die Seiten um, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies mächtige Rauchwolken aus seiner Zigarre.
»Meine M-Sammlung ist vorzüglich«, sagte er. »Moriarty allein reicht schon, um jeden Buchstaben auszuzeichnen; und hier haben wir Morgan, den Giftmörder, und Merridew gräßlichen Gedenkens, und Mathews, der mir im Wartesaal in Charing Cross den linken Eckzahn ausgeschlagen hat, und schließlich unseren Freund von heut nacht.«
Er übergab mir das Buch, und ich las:
Moran, Sebastian, Colonel.
Unbeschäftigt. Ehemals bei den 1. Bangalore-Pionieren. Geboren 1840 in London. Sohn von Sir Augustus Moran, C.B. 8 , dem ehemaligen britischen Gesandten in Persien. Schulbesuch in Eton und Oxford. Diente bei den Jowaki-und Afghanistan-Feldzügen in Charasiab (Depeschen), Sherpur und Kabul 9 . Verfasser von
Großwild im westlichen Himalaya
(1881);
Drei Monate im Dschungel
(1884). Anschrift: Conduit Street. Clubs: Anglo-Indian, Tankerville, Bagatelle Card Club.
Am Rand stand in Holmes’ deutlicher Handschrift: Der zweitgefährlichste Mann Londons 10 .
»Das ist erstaunlich«, sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Die Karriere dieses Mannes ist die eines ehrenhaften Soldaten.«
»Wohl wahr«, antwortete Holmes. »Bis zu einem gewissen Punkt hielt er sich gut. Er war immer ein Mann mit eisernen Nerven, und in Indien hört man noch immer die Geschichte, wie er einem verwundeten menschenfressenden Tiger in ein Kanalisationsrohr nachgekrochen ist. Es gibt gewisse Bäume, Watson, die bis zu einer bestimmten Höhe wachsen, um dann plötzlich eine unansehnliche Exzentrizität zu entwickeln. Auch bei Menschen werden Sie das oft beobachten. Ich habe eine Theorie, nach der das Individuum im Verlauf seiner Entwicklung die ganze Reihe seiner Vorfahren durchlebt, und solch ein plötzlicher Umschwung zum Guten oder Bösen beruht demnach auf irgendeinem starken Einfluß, der in der Reihe seiner Ahnen tätig war. Der Mensch wird gleichsam zum Inbegriff der Geschichte seiner
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