Die Rückkehr des Sherlock Holmes
wandte er sich rasch in einen schmalen Gang, ging durch ein hölzernes Tor in einen verlassenen Hof und öffnete sodann mit einem Schlüssel die Hintertür eines Hauses. Wir traten zusammen ein, und er schloß hinter uns ab.
Drinnen war es pechfinster, aber mir war klar, daß dies ein leerstehendes Haus war. Unsere Füße knarrten und knackten auf den nackten Dielen, und meine ausgestreckte Hand berührte eine Wand, von der die Tapete in Streifen herunterhing. Holmes’ kalte dünne Finger schlössen sich um mein Handgelenk und führten mich einen langen Flur hinab, bis ich über einer Tür undeutlich ein trübes Oberlicht ausmachte. Hier wandte sich Holmes plötzlich nach rechts, und dann standen wir in einem großen, quadratischen leeren Zimmer; die Ecken lagen in tiefen Schatten, während es in der Mitte vom Schein der Straßenlaternen draußen schwach erleuchtet wurde. Eine Lampe gab es nicht, und das Fenster war dick mit Staub bedeckt, so daß wir gerade eben unsere Gestalten zu unterscheiden vermochten. Mein Gefährte legte mir seine Hand auf die Schulter lind führte seine Lippen dicht an mein Ohr.
»Wissen Sie, wo wir sind?« flüsterte er.
»Gewiß in der Baker Street«, antwortete ich, indem ich aus dem trüben Fenster starrte.
»Genau. Wir befinden uns im Camden House, gegenüber unserer alten Wohnung.«
»Aber wieso sind wir hier?«
»Weil sich von hier ein so hervorragender Blick auf jenes malerische ehrwürdige Gebäude bietet. Mein lieber Watson, wollen Sie sich bitte bemühen, ein wenig näher ans Fenster zu treten; sehen Sie sich aber sehr vor, daß Sie sich nicht zeigen, und blicken Sie dann hoch zu unseren alten Zimmern – dem Ausgangspunkt so vieler unserer kleinen Abenteuer. Wir wollen doch einmal sehen, ob meine dreijährige Abwesenheit mich vollständig der Macht beraubt hat, Sie zu überraschen.«
Ich schlich mich nach vorn und sah zu dem vertrauten Fenster hinüber. Als mein Blick darauf fiel, verschlug es mir vor Verblüffung den Atem, und ich schrie auf. Die Jalousie war herabgezogen, und im Zimmer brannte helles Licht. Der Schatten eines Mannes, der drinnen in seinem Sessel saß, fiel in scharfer schwarzer Silhouette auf die erleuchtete Fensterscheibe. Die Kopfhaltung, die eckigen Schultern, die scharfgeschnittenen Züge ließen keinen Zweifel. Das Gesicht war halb abgewandt, und das Ganze wirkte wie einer jener schwarzen Scherenschnitte, die unsere Großeltern so gerne anfertigten. Es war ein perfektes Abbild von Holmes. So verblüfft war ich, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu vergewissern, daß der Mann selbst neben mir stehe. Er bebte vor stummem Gelächter.
»Nun?« sagte er.
»Gütiger Himmel!« rief ich. »Das ist grandios!«
»Getrost, nicht kann mich Alter 4 hinwelken, täglich Sehn an mir nicht stumpfen die immerneue Reizung«, sagte er, und ich bemerkte in seiner Stimme den Stolz und die Freude, die der Künstler über seine Schöpfung empfindet. »Es ist mir wirklich ziemlich ähnlich, nicht wahr?«
»Ich würde jederzeit schwören, daß Sie es seien.«
»Das Lob für die Ausführung gebührt Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble, der einige Tage über der Verfertigung der Gußform hinbrachte. Es ist eine Wachsbüste. Das übrige arrangierte ich selbst heute nachmittag bei meinem Besuch in Baker Street.«
»Aber warum?«
»Weil ich, mein lieber Watson, denkbar besten Grund zu dem Wunsche hatte, gewisse Leute möchten glauben, ich sei dort, während ich in Wirklichkeit woanders bin.«
»Und Sie glaubten, die Zimmer würden beobachtet?«
»Ich
wußte,
sie wurden beobachtet.«
»Von wem?«
»Von meinen alten Feinden, Watson. Von der reizenden Gesellschaft, deren Anführer im Reichenbach-Fall liegt. Sie müssen bedenken, daß sie, und nur sie, wußten, daß ich noch am Leben war. Und sie glaubten, früher oder später würde ich in meine Wohnung zurückkehren. Sie beobachteten sie ununterbrochen, und heute morgen sahen sie mich ankommen.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Weil ich ihren Posten erkannt habe, als ich aus dem Fenster blickte. Ein reichlich harmloser Bursche, Parker mit Namen, Straßenräuber von Beruf, ein bemerkenswerter Künstler auf der Maultrommel. Aus ihm machte ich mir nichts. Sehr viel aber machte ich mir aus dem wesentlich bedrohlicheren Menschen hinter ihm, dem Busenfreund Moriartys, dem Manne, der die Steine über den Felsen geworfen hat, dem gerissensten und gefährlichsten Kriminellen Londons. Dies ist der Mann, der heut nacht
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