Die Rückkehr des Tanzlehrers
herum. Er war immer noch nicht nahe genug herangekommen, um erkennen zu können, wohin die Spuren führten. Er stellte sich ans Ende des Güterwaggons und schaute vorsichtig nach vorn.
Der Schnee dämpfte alle Geräusche. Er hörte den Mann nicht, der von hinten herankam und ihm einen kräftigen Schlag in den Nacken versetzte.
Als Stefan im Schnee zusammensank, war er bewußtlos.
Als er die Augen wieder aufschlug, herrschte um ihn kompakte Dunkelheit. Es hämmerte im Nacken. Er wußte sofort, was geschehen war. Der Güterwaggon. Er hatte um die Ecke geguckt, um das Bahnhofslicht zu sehen. Dann ein Blitz. Er befand sich nicht mehr im Freien. Er saß auf einem Stuhl. Er konnte die Arme nicht bewegen, auch die Beine nicht. Er war an einen Stuhl gefesselt und hatte eine Binde vor den Augen.
Angst überfiel ihn.
Er war von dem Mann, dessen Spuren im Schnee er gefolgt war, gefangen und fortgebracht worden. Er hatte etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen. Er hatte sich allein auf den Weg gemacht. Ohne Kollegen, ohne Unterstützung. Er fühlte sein Herz hämmern. Als er den Kopf drehte, schoß ihm der Schmerz in den Nacken. Er horchte ins Dunkel hinaus und fragte sich, wie lange er bewußtlos gewesen war.
Er fuhr zusammen. Unmittelbar neben ihm atmete jemand.
Wo befand er sich? Es war ein Geruch im Raum, den er erkannte, ohne ihn identifizieren zu können.
In diesem Raum war er schon einmal gewesen.
Aber wo lag er?
Vor seiner Augenbinde veränderte sich das Licht. Er konnte immer noch nichts sehen, aber im Zimmer war Licht gemacht worden. Er hielt den Atem an und hörte ein paar gedämpfte Schritte. Ein Teppich, dachte er. Außerdem vibriert der Fußboden. Ein altes Haus mit Holzfußboden. Ich bin schon einmal hiergewesen. Das weiß ich genau.
Dann begann ein Mann in gebrochenem Englisch zu sprechen. Die Stimme befand sich auf seiner linken Seite. Es war eine rauhe Stimme. Die Worte kamen langsam, und der Akzent war sehr deutlich.
»Es tut mir leid, daß ich gezwungen war, Sie niederzuschlagen. Aber diese Begegnung ist notwendig.«
Stefan antwortete nicht. Jedes Wort, das er sagte, konnte gefährlich sein, wenn der Mann neben ihm wahnsinnig war. Vorläufig war Schweigen sein einziger Schutz.
»Ich weiß, daß Sie Polizist sind«, fuhr die Stimme fort. »Woher ich das weiß, ist egal.«
Der Mann verstummte, als wollte er Stefan die Möglichkeit geben, etwas zu sagen. Er wartete.
»Ich bin müde«, sagte die Stimme. »Die Reise ist viel zu lang gewesen. Ich möchte nach Hause fahren, aber ich muß Antworten auf ein paar Fragen erhalten. Außerdem gibt es noch einen Menschen, mit dem ich sprechen will. Antworten Sie nur auf die Frage: Wer bin ich?«
Stefan versuchte, das, was er hörte, zu deuten. Nicht die Worte, sondern das, was sich hinter ihnen verbarg. Der Mann machte einen vollkommen gelassenen Eindruck. Nicht unruhig, nicht erregt.
»Ich hätte gern eine Antwort«, wiederholte die Stimme. »Es wird Ihnen nichts passieren, aber ich darf Sie mein Gesicht nicht sehen lassen. Wer bin ich?«
Stefan sah ein, daß er antworten mußte. Die Frage war sehr entschieden gestellt worden.
»Ich habe Sie aus meinem Hotelfenster unten im Schnee gesehen. Sie haben die Arme erhoben und im Schnee die gleichen Spuren hinterlassen wie in Herbert Molins Haus.«
»Ich habe ihn getötet. Es war notwendig. Ich hatte mir in all den Jahren vorgestellt, daß ich zögern würde, aber ich habe nicht gezögert. Vielleicht werde ich auf meinem Totenbett bereuen. Ich weiß es nicht.«
Stefan merkte, daß er durchgeschwitzt war. Der Mann will reden, dachte er. Ich brauche Zeit, um zu verstehen, wo ich bin, was ich tun kann. Er dachte an das, was die Stimme gesagt hatte. All die Jahre. Da konnte er ansetzen. Ein paar einfache Rückfragen stellen.
»Ich verstehe, daß es etwas mit dem Krieg zu tun haben muß«, sagte er. »Ereignisse, die weit zurückreichen in der Zeit.«
»Herbert Molin hat meinen Vater getötet.«
Die Worte kamen ganz ruhig. Langsam. Eins nach dem anderen. Herbert Molin hat meinen Vater getötet. Stefan zweifelte nicht, daß Fernando Hereira, oder wie sein wirklicher Name auch sein mochte, die Wahrheit sagte.
»Was geschah damals?«
»In Hitlers grauenhaftem Krieg sind Millionen von Menschen gestorben. Dennoch steht jeder Tote für sich, hat jedes Grauen sein eigenes Gesicht.«
Stefan wartete. Er versuchte, das Wichtigste aus dem, was der Mann bisher gesagt hatte, herauszuschälen. In all den Jahren.
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